“Jene, die den Frieden lieben, müssen sich ebenso wirkungsvoll organisieren wie jene, die den Krieg lieben.”

 

Es gehe, sagte Thorsten Frei, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU im Zusammenhang mit der Lieferung deutscher Panzer an die Ukraine, darum, ob man auf der “richtigen Seite der Geschichte” stehe. Andere sprechen im Zusammenhang mit Waffenlieferungen von einem “Wertewandel” oder gar einer “Zeitenwende”. Und alle meinen das Gleiche: Wer die Zeichen der Zeit immer noch nicht erkannt habe und sich immer noch an der Vision einer Welt ohne Waffen und Kriege festklammere, habe endgültig den Anschluss an die heutige Zeit verloren. Friedensmärsche, so lese ich in einem Twitterkommentar, seien doch längst nicht mehr zeitgemäss. Und der deutsche FDP-Politiker Graf Lambsdorff versteigt sich gar zur Behauptung, Friedensmärsche wären nichts anderes als eine “5. Kolonne Wladimir Putins”. Nichts wünschte ich mir sehnlicher, als das Rad der Geschichte zurückdrehen zu können. Ins Jahr 1971 zum Beispiel, als der damalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises sagte: “Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen.” Oder ins Jahr 1980, als der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte: “Lieber hundert Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schiessen.” Seitdem sind sie wie Dominosteine einer nach dem andern umgefallen, zuerst Politikerinnen und Politiker jeglicher Couleur, auch die Grünen, die ihre so radikale pazifistische Tradition sang- und klanglos über den Haufen geworfen haben, als wäre da nie etwas gewesen, und jetzt auch noch die SPD. Sie alle argumentieren, die Zeiten hätten sich eben geändert. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sähe die Welt von Grund auf anders aus. Der Pazifismus sei grundsätzlich schon richtig, aber nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Man müsse ihn jetzt sozusagen ins Gefrierfach legen, um ihn dann, wenn bessere Zeiten gekommen sind, wieder hervorzuholen. Doch man kann den Pazifismus nicht aufs Eis legen. Im Gegenteil, er ist heute aktueller und dringender denn je. “Wir haben uns auf Putins Kriegslogik eingelassen, auf das Prinzip von Gewalt und Gegengewalt”, schreibt die russische Schriftstellerin Natascha Wodin, “ich glaube nicht, dass wir der Ukraine damit helfen können. Es muss alles getan werden, um die Lage zu deeskalieren, zu entschärfen, kein Öl mehr ins Feuer zu giessen.” Ja, Putin erobert nicht nur ukrainische Städte. Er ist auch daran, unser Denken zu erobern, indem wir es der gleichen zerstörerischen Logik unterwerfen, Gewalt sei mit Gewalt zu bezwingen und es gäbe dazu keine Alternative. Aber auch das ist noch nicht alles. Erobert wird auch immer stärker die Oberhand über die öffentliche Meinung inmitten von Ländern, die eben noch auf ihre demokratische Meinungs- und Gedankenfreiheit so stolz gewesen sind. Immer mehr formt sich ein Einheitsdenken heraus, immer stärker geraten Einzelne, die anders denken, unter die Räder, werden als “Ewiggestrige”, als “Naivlinge”, “Träumerinnen” oder “Putinversteher” abgestempelt oder sogar lächerlich gemacht und es wird ihnen vorgeworfen, sie stünden auf der “falschen Seite der Geschichte”. Ist erst einmal eine Mehrheit für das “Richtige” gewonnen, so haben es jene, die das “Falsche” vertreten, immer schwerer, überhaupt noch zu Wort zu kommen. Selbst die besten Argumente verhallen im Leeren, wenn jene, die sich in der Mehrheit sonnen, nicht mehr bereit sind zuzuhören. “Je weiter sich eine Gesellschaft von der Wahrheit entfernt”, sagte der englische Schriftsteller George Orwell, “desto mehr wird sie jene hassen, die sie aussprechen.” Auch Albert Einstein sagte: “Wir sollten uns viel öfter die Frage stellen, ob es richtig ist, nur weil wir es alle tun.” Und der russische Schriftsteller Leo Tolstoi formulierte es ganz ähnlich: “Falsch hört nicht auf, falsch zu sein, nur weil die Mehrheit daran beteiligt ist.” Und doch bleibt Hoffnung. Es gibt nämlich nicht nur die Kriegstreiber, die Scharfmacher, die Machtpolitiker, die Rüstungsindustrie und die abtrünnig gewordenen Pazifisten und Pazifistinnen, die uns auf beiden Seiten der ideologischen Gräben ins Unheil zu stürzen versuchen. Es gibt eine ganz überwiegend grosse Mehrheit von Menschen hüben und drüben aller Grenzen, die sich nichts sehnlicher wünschen als ein Ende aller Gewalt, aller Zerstörung, aller Kriege und die Geburt einer neuen Zeit weltweiten Friedens. Nur solange sie schweigen und nicht selber aktiv werden, kann das Böse sein Spiel weitertreiben. Denn “alles, was das Böse braucht, um zu triumphieren”, sagte der ehemalige UNO-Generalsekretär Kofi Annan, “ist das Schweigen der Mehrheit.” Und auch der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King rief dazu, aus Gleichgültigkeit und Passivität herauszutreten und aktiv zu werden: “Jene, die den Frieden lieben”, sagte er, “müssen sich ebenso wirkungsvoll organisieren wie jene, die den Krieg lieben.” Was für eine Vision: Der Ukrainekrieg als der erste Krieg, der nicht durch Gegenkrieg, sondern durch Pazifismus besiegt worden wäre. Dann, erst dann, könnten wir davon sprechen, auf der “richtigen Seite der Geschichte” gestanden zu haben. Dann, erst dann, könnten wir tatsächlich von einem “Wertewandel” oder gar von einer “Zeitenwende” sprechen. Und dann, erst dann, wäre die Sehnsucht tief in uns allen, die mit jedem Kind, das in die Welt kommt, immer wieder aufs Neue geboren wird, dann. erst dann, wäre diese Sehnsucht nach einer Welt voller Liebe, Frieden und Gerechtigkeit Wirklichkeit geworden.