Jede “Reform” der Arbeitswelt muss so lange bruchstückhaft bleiben, als nicht das ganze kapitalistische Ausbeutungssystem durch eine neue Gesellschaftsordnung ersetzt wird, in der jegliche Ausbeutung von Menschen durch andere Menschen ein Ende findet…

 

Gemäss “Tagesanzeiger” vom 21. November 2022 hätte ein ehemaliger Tesla-Mitarbeiter in Los Angeles berichtet, es sei von ihm erwartet worden, den Zeitaufwand für einen bestimmten Arbeitsschritt zu halbieren. Er habe es versucht, doch es sei physikalisch unmöglich gewesen. Der Mann sei daraufhin gefeuert worden. Auch die Industrie- und Handelskammer der schweizerischen Kantone Appenzell und St. Gallen schlägt, wie das “Tagblatt” am 22. November berichtet, angesichts des zunehmenden Personalmangels in vielen Betrieben eine “Produktivitäts- und Qualifikationsoffensive” vor, damit “mit weniger Arbeitskräften mehr geleistet” werden könne. Und L., eine 34jährige Physiotherapeutin, schlägt sich mit dem Gedanken herum, ihren Job an den Nagel zu hängen. 16 Patientinnen und Patienten pro Tag, jede Behandlung 25 Minuten, keine Pausen dazwischen, keine Erholung, keine Zeit um sich in Krankheitsberichte sorgfältig einzulesen und die Rapporte zu schreiben, am Abend sei sie fix und fertig und es bleibe dennoch das schlechte Gefühl zurück, den eigenen Erwartungen nicht gerecht geworden zu sein. Eigentlich, sagt sie, liebe sie lieben Beruf, aber nicht unter diesen Bedingungen.

L., die Physiotherapeutin, hat nun wenigstens ihr Arbeitspensum auf 80 Prozent gekürzt, um mehr Zeit für Ausgleich und Erholung zur Verfügung zu haben. Sie ist nicht die Einzige. Immer mehr Menschen reduzieren ihr Arbeitspensum und könnten sich kaum noch vorstellen, vollzeitig beschäftigt zu sein. Doch das ist längst nicht allen Beschäftigten möglich. Zahlreiche Arbeitnehmende verdienen so wenig, dass sie sich eine Arbeitszeitreduktion schlicht und einfach gar nicht leisten können. Sie alle sind gleich doppelt bestraft: Indem sie länger arbeiten müssen als andere und meist erst noch weniger verdienen als – obwohl sie täglich dem gleichen übermässigen und krankmachenden Arbeitsdruck ausgesetzt sind. Ganz abgesehen davon, dass sich selbst viele von denen, die ihre Arbeitszeit reduziert haben, dass sie noch dennoch nicht zu selten eine hundertprozentige Arbeitsleistung erbringen müssten, nur eben zu einem geringeren Lohn. 

In aller Regel scheint die Meinung vorzuherrschen, bei alledem handle es sich um so etwas wie ein Naturgesetz, dem wir alle machtlos ausgeliefert sind, ohne daran etwas ändern zu können. Ein Naturgesetz, das auf einer höchst perfiden Logik beruht, der Logik nämlich, dass sich alle arbeitenden Menschen gegenseitig ausbeuten und gegenseitig voneinander profitieren. Denn natürlich liegt es im Interesse jedes zukünftigen Teslabesitzers, wenn er sich sein neues Auto möglichst günstig erstehen kann – dass sich die Arbeiter in der Autofabrik halb zu Tode krüppeln, muss ihn ja nicht kümmern. Und natürlich sind die Patientinnen und Patienten der Physiotherapeutin dafür dankbar, wenn sie einem möglichst billigen Preis eine möglichst gute Behandlung bekommen – was die Physiotherapeutin dafür für einen Preis bezahlt, kann ihnen ja egal sein. Und natürlich sind die Konsumentinnen und Konsumenten froh, wenn sie im Supermarkt ihren Kaffee, ihr Gemüse und ihr Fleisch zu möglichst niedrigen Preisen kaufen können – sie sehen, hören und spüren ja nichts von den Arbeitsbedingungen auf den Kaffeeplantagen, auf den Gemüsefeldern, in den Schlachthöfen und an allen anderen Orten, wo das heilige Prinzip herrscht, aus den Menschen, aus der Erde und aus der Natur in möglichst kurzer Zeit eine möglichst hohe Produktivität herauszupressen.

Es ist eben nur die halbe Wahrheit, dass alle von allen profitieren. Tatsächlich sind es immer die Gleichen, die profitieren, und immer die Gleichen, die dafür bezahlen, auf einer Pyramide, auf der zuoberst die Reichen und Mächtigen thronen und auf welcher der Druck und die Ausbeutung gegen unten immer weiter zunehmen bis ganz unten zu denen, welche die schwerste Bürde tragen, am härtesten arbeiten und dennoch am wenigsten verdienen. Jede “Reform” der Arbeitswelt muss so lange bruchstückhaft bleiben, als nicht das ganze kapitalistische Ausbeutungssystem durch eine neue Gesellschaftsordnung ersetzt wird, in der jegliche Ausbeutung von Menschen durch andere Menschen ein Ende findet. Eine neue Gesellschaftsordnung, in der die Arbeitsbedingungen von denen bestimmt werden, welche die Arbeitsleistung erbringen – nicht von denen, die sie mit überschüssigem Geld gekauft haben. Eine neue Gesellschaftsordnung, in der die Arbeit nicht nur einigen wenigen Privilegierten, sondern allen Menschen Freude macht und persönliche Befriedigung verschafft. Eine neue Gesellschaftsordnung, in der nicht das Geld, sondern die Talente, die Begabungen und die Gesundheit der Menschen das höchste und kostbarste Gut bilden. Eine neue Gesellschaftsordnung, in welcher der unselige Begriff der “Arbeitnehmerin” endlich durch den korrekten Begriff der “Arbeitgeberin” ersetzt, ist es niemand anderes als sie, welche anderen ihre Arbeit zur Verfügung stellt, die andere mit ihrer Arbeit “beschenkt” – und nicht umgekehrt. Alles hängt mit allem zusammen und kann nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Denn, wie schon der schweizerische Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”