IV und Sozialhilfe: Und wo bleibt die soziale Gerechtigkeit?

 

“IV drängt Wenigverdiener in die Sozialhilfe ab” – so titelt der heutige “Tages-Anzeiger” vom 8. Februar 2021: “Anspruch auf eine Rente der IV hat nur, wer wegen gesundheitlicher Beeinträchtigungen mit einem mindestens 40 Prozent tieferen Einkommen leben muss. Dies macht sich die IV zunutze, wie Recherchen zeigen. Sie rechnet bei ihren Rentenentscheiden mit Löhnen für Hilfsarbeiten, die auf dem Arbeitsmarkt gar nicht bezahlt werden. Das ist vor allem für Menschen ein Problem, die schon vor der Invalidität wenig verdient haben. Viele haben keine Chance auf eine Rente und landen bei der Sozialhilfe.” Eigentlich ist es absurd: Eigentlich müssten Menschen, die in ihrer beruflichen Tätigkeit über Jahre ihr Bestes gaben und dabei auch ihre Gesundheit aufs Spiel setzten, im Falle einer Erkrankung oder eines Unfalls ganz besonders rücksichtsvoll behandelt werden und sogar so etwas wie ein Schmerzensgeld bekommen. In der Realität aber ist genau das Gegenteil der Fall. Verunfallte oder erkrankte Berufsleute werden bestraft, indem sie nun entweder, wenn sie “Glück” haben, einer schlechter bezahlten, einfacheren Tätigkeit nachgehen, oder aber, wenn sie Pech haben, überhaupt keine Arbeit mehr finden und früher oder später in der Sozialhilfe landen. Ganz so, als wären sie an ihrer misslichen Lage selber Schuld und müssten sich halt nun wohl oder übel damit abfinden, auf ihren früheren Lebensstandard zu verzichten. Gewiss, wir sind weit entfernt von früheren Zeiten, als sich Menschen, die keiner geregelten Arbeit nachgehen konnten, mit Betteln oder irgendwelchen Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten mussten. Wir haben, glücklicherweise, ein soziales Netz, das niemanden fallen lässt. Und trotzdem: Ist es nicht höchst ungerecht, wenn Menschen, nur weil sie das Pech hatten, infolge einer besonders schweren Arbeit oder anderer schlechter äusserer Umstände krank zu werden oder einen Unfall zu erleiden, zeitlebens damit bestraft werden, am alleruntersten Rand der Gesellschaft zu leben? Ob es die IV-Rente ist oder das Sozialhilfegeld: Die betroffenen Menschen müssen auf hunderterlei Annehmlichkeiten verzichten, die für den Rest der Gesellschaft selbstverständlich sind, vom Kinobesuch über das auswärts Essen bis hin zur jährlichen Ferienreise. Das einzige wirklich Gerechte wäre ein Einheitslohn: Ausschlaggebend wäre nicht mehr der soziale Status, der mit einer bestimmten beruflichen Tätigkeit verbunden ist. Ausschlaggebend wäre der geleistete Aufwand, die investierte Leistung. Wenn ein körperbehinderter Hilfsgärtner mit vollem Einsatz eine Stunde lang Pflanzen gesetzt, Unkraut gejätet und Sträucher geschnitten hat, dann hat er, in Bezug auf sein vorhandenes Potenzial, eine ebenso grosse Leistung erbracht wie die Ärztin, die sich eine Stunde lang voller Empathie um ihre Patienten und Patientinnen gekümmert hat. Und so müssten eigentlich beide für diese Stunde auch genau den gleichen Lohn bekommen, tragen sie doch beide das Beste, was in ihren Kräften liegt, zum Gelingen des Ganzen bei und haben somit beide das Anrecht auf einen gleich hohen Lebensstandard. Bleibt aber die Frage, wie denn mit jenen Menschen umzugehen sei, die überhaupt keine, auch keine schlechte, Arbeitsstelle finden. Nun, auch das ist wiederum kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem. Die Arbeitswelt müsste schlicht und einfach so organisiert sein, dass es für jeden Menschen eine ihm gemässe berufliche Tätigkeit gibt, eine Arbeitswelt also, die nicht von oben bestimmt ist, von der Gewinnsucht und den Profitansprüchen von Konzernen, sondern von unten, von den Menschen mit all ihren Begabungen, ihrem Potenzial und ihren Leidenschaften. IV-Renten, Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe, das mag ja alles gut und recht sein, tatsächlich aber handelt es sich bei alledem um reine Symptombekämpfung in einer Welt, die immer noch meilenweit von echter sozialer Gerechtigkeit und einem guten Leben für alle entfernt ist.