Ist der Mensch gut oder böse?

 

Ist der Mensch gut oder böse? Wir haben es uns zur Angewohnheit gemacht, Fragen solcher Art den Wissenschaftlerinnen, Philosophen oder Religionsführern zu überlassen. Dabei hat wohl schon jedes Kind, wenn man es fragen würde, dazu eine Meinung. Man muss es den Menschen nur zutrauen, dass sie das selber beurteilen können und dafür nicht irgendwelche “Experten” brauchen. Es ist nämlich eine ganz simple Erfahrung: Kein Mensch käme auf die Idee, in einem Kind im Augenblick seiner Geburt einen potentiellen Gewalttäter, eine Verbrecherin oder einen Mörder zu erkennen. “Der Mensch ist gut und will das Gute”, sagte der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi, “und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.” Den gleichen Gedanken äusserte der Freiheitskämpfer und späterer Präsident Südafrikas, Nelson Mandela, der 30 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbrachte und allen Grund gehabt hätte, in den Menschen vor allem das Böse zu sehen: “Niemand wird geboren, um andere Menschen zu hassen. Dem Menschen wird Hass beigebracht, und wenn Hass gelehrt werden kann, kann das auch die Liebe.” Die Behauptung, der Mensch sei von Natur aus böse, schlecht oder gar “sündig”, ist eine verheerende Lüge, welche die Grundlage jener beiden grossen Denksysteme bildet, die uns bis heute zutiefst prägen. Auf der einen Seite die christliche Lehre, wonach der Mensch schon in dem Augenblick, da er geboren wird, ein “sündiges Wesen” ist, das ohne Hinwendung zum christlichen Glauben zu ewiger Verdammnis verurteilt sei. Auf der anderen Seite die kapitalistische Lehre, wonach der Mensch von Natur aus faul und träge sei und deshalb mit einem System aus Zuckerbrot und Peitsche zu nutzbringender Arbeit angehalten werden müsste. In beiden Systemen spielt die Erziehung eine wichtige Bedeutung: Das Kind, faul, träge und sündig, soll durch die “richtige” Erziehung auf den “richtigen” Weg gebracht werden, um dereinst als “richtig” funktionierendes Glied der Gesellschaft dienen zu können. Doch genau dies ist der verhängnisvolle Irrtum. Das Kind ist eben nicht faul, träge und sündig, im Gegenteil: Es ist frei von jedem menschlichen Laster, es ist neugierig, eifrig, unermüdlich forschend und lernend, voller Liebe, ein Funken aus dem Paradies. Eigentlich braucht es keine Erziehung. Erziehung kann höchstens Schaden anrichten und in eine Entwicklung eingreifen, die ohne sie schon auf dem besten Wege gewesen wäre. “Es wird überhaupt zu viel erzogen”, sagte auch Albert Einstein, “die einzige nützliche Form der Erziehung besteht darin, Vorbild zu sein.” Und der libanesische Philosoph und Dichter Kahlil Gibran sagte: “Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Es sind Söhne und Töchter von des Lebens Verlangen nach sich selber. Und sind sie auch bei euch, so gehören sie euch doch nicht.” Im vermeintlichen Bemühen, durch Erziehung etwas Gutes zu bewirken, erreichen wir das Gegenteil: Die Blumen, die noch gar nicht richtig wachsen konnten, werden umgebogen, bevor sie noch ihre Blüten richtig entfalten konnten. Die schlimmste Rolle spielt dabei die so genannte “Volksschule”, die ihre tiefen Wurzeln bezeichnenderweise auch wieder im christlichen und kapitalistischen Denksystem hat: Hier soll, was die Eltern noch nicht geschafft haben, nun endgültig vollbracht werden: die Anpassung des Kindes an die Anforderungen der kapitalistischen Erwachsenenwelt. Genau das, was die grosse Chance gewesen wäre, wird auf den Kopf gestellt: Die Kinder, von denen jedes seinen eigenen, unverwechselbaren, lustvollen Weg durchs Leben gesucht hätte, werden nun gezwungen, gegeneinander um Prüfungen, Zeugnisse und zukünftige Lebenschancen zu wetteifern. Erwachsene, die alle selber einmal Kinder waren, übertreffen sich nun gegenseitig im Bemühen, auch aus den neuen Kindern wieder möglichst schnell neue Erwachsene zu machen. Ein Teufelskreis. Wann wird er endlich durchbrochen? Wann endlich erkennen wir, dass der innerste Kern des Menschen das Gute ist und dass nichts so wichtig wäre, als dieses Gute in einer möglichst liebevollen und respektvollen Umgebung sich verwirklichen zu lassen? “Das Böse ist immer extrem”, sagte Hannah Arendt, die als Jüdin zur Zeit des Nationalsozialismus von der Gestapo verhaftet wurde und eine Zeitlang im Gefängnis sass, “aber nie radikal. Radikal ist immer nur das Gute.”