In meiner Stadt ist etwas los: Der ganz normale tägliche Wahnsinn

 

In meiner Stadt ist etwas los. Als wären sie über Nacht eingeflogen und plötzlich standen sie da: Vier in den Himmel ragende Bauvisiere haben eines der Geschäftshäuser an der Bahnhofstrasse förmlich in die Zange genommen. Geschätztes Volumen des ausgesteckten Neubaus: etwa das Doppelte des bisherigen Gebäudes, alle jetzt noch vorhandenen Gehbereiche und Grünflächen aufgeschluckt, jeder Quadratmillimeter dem renditesüchtigen Kapital unterworfen. Ich kann es immer noch nicht glauben: Ein Gebäude, das wahrscheinlich gut und gerne auch noch die nächsten hundert Jahre überstehen würde, mit guter Bausubstanz und einer gefälligen Architektur mit terrassenförmig abgestuften Wohngeschossen auf den obersten Etagen, soll tatsächlich dem Erdboden gleichgemacht werden? Wo jetzt Menschen ihre Einkäufe tätigen, andere ihrer Arbeit nachgehen und es sich wieder andere in ihren Wohnungen gemütlich gemacht haben – von all dem soll nichts anderes übrig bleiben als ein riesiger Schutthaufen, der mit einem immensen Aufwand an Energie zerkleinert, abtransportiert und entsorgt werden muss? Und was ist mit all den Rohstoffen, dem Baumaterial, der Energie, die erforderlich sein wird, um das neue, doppelt so grosse Gebäude zu errichten? Dies alles würde ja vielleicht dann noch Sinn machen, wenn der Bedarf an zusätzlicher Fläche für Geschäfte, Büros, Arztpraxen oder gewerbliche Nutzung in unserer Stadt tatsächlich so gross wäre, doch genau das Gegenteil ist der Fall: Seit Jahren stehen zahlreiche Lokalitäten für Geschäfte, Büros und Kleingewerbe leer und konnten trotz intensivster Bemühungen nicht vermietet werden. Gleichzeitig fehlt es an allen Ecken und Enden an preisgünstigen Wohnungen, während immer mehr Wohnungen im höchste Preissegment gebaut werden. Wie heisst es so schön: Der Freie Markt regle alles am besten zum Wohle der Menschen. Wie lange noch glauben wir dieses Märchen?