In Hallen längst vergangener Zeiten

Still, wie Schlafwandlerinnen und Schlafwandler, nahezu andächtig, bewegen sich die Menschen durch die weiten Hallen der Bilder aus längst vergangenen Zeiten. Ihren Gesichtern ist weder Begeisterung noch Abscheu noch irgendein anderes spürbares Gefühl abzulesen. Ob Picasso, Monet oder Franz Marc: Ihre Bewunderung, ihr Staunen, ihre Ehrfurcht, alles ist, wenn überhaupt vorhanden, auf seltsame Weise unsichtbar. Nicht einmal Bilder, auf denen Menschen zu sehen sind, welche unsäglichen Schmerzen und Qualen ausgeliefert sind, scheinen so etwas wie Betroffenheit oder Mitleid in ihnen aufzuwecken. Mit der gleichen unbegreiflichen Unberührtheit sind sie schon unten, beim Eingang ins Museum, an jenem riesigen Bildschirm vorbeigewandelt, auf dem zu lesen war, welche Bilder zu welchen astronomischen Summen im Verlaufe der vergangenen Jahre ihre Besitzer wechselten. Aber nicht einmal diese unfassbare Tatsache, dass es Menschen gibt, welche so viel Geld besitzen, bloss um sich Bilder zu kaufen, die sie vielleicht nicht einmal in ihren Wohnungen aufhängen, mit so viel Geld, das andere nicht einmal während eines ganzen Lebens verdienen, nicht einmal diese Tatsache scheint sie in besonderem Masse betroffen oder gar aufgerüttelt zu haben. Dabei haben schon unzählige Experimente gezeigt: Man könnte anstelle all der berühmten Bilder auch Kinderzeichnungen aufhängen oder Bilder, die von in Farbtöpfe getauchten Kuhschwänzen gemalt wurden oder sogar Bilder, die aus einer einzigen gleichförmigen Farbfläche ohne jegliches Sujet oder erkennbares Motiv bestehen würden – die Menschen würden an ihnen ebenso still, wie Schlafwandlerinnen und Schlafwandler, nahezu andächtig, vorüberziehen.

Und mit der gleichen Andacht und Unbetroffenheit werden sie später auch durch die Stadt gehen und zahllose Sehenswürdigkeiten, Kirchen, Schlösser, Paläste, prunkvolle Parkanlagen an ihren Augen vorüberziehen lassen. Sie werden all dies hundertfach fotografieren und all die Bilder, welche sich gleichen wie ein Ei dem andern, in alle Welt versenden. Aber sie werden sich auf unerklärliche Weise nicht damit beschäftigen und sich schon gar nicht darüber ereifern, mit welchen Opfern, Schmerzen und Leiden all diese zur Schau gestellte Pracht verbunden war und dass all dieser Reichtum nur deshalb so unsäglich gross gewesen war, weil die Armut auf der anderen Seite, die keinerlei Spuren hinterlassen hat, nirgendwo mehr zu sehen ist und von niemandem mehr fotografiert und in alle Welt versendet werden kann, noch unsäglich viel grösser gewesen war.

Ich wünschte mir, dass es, nebst all diesen Orten, wo die Menschen sich stundenlang und tagelang an den Wundern längst vergangener Zeiten ergötzen, doch endlich auch möglichst viele Orte gäbe, wo sie sich nicht mit der Vergangenheit beschäftigen, sondern mit der Zukunft. Orte, wo eifrigst darüber diskutiert und gerungen würde, wie diese Welt, um allen ihren Bewohnerinnen und Bewohnern ein gutes und sicheres Leben bieten zu können, in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren aussehen könnte, wenn die Bilder von Picasso, Monet und Franz Marc schon längst verblasst sind. An diesen neuen Orten würde es freilich nicht so still und andächtig zu und her gehen wie in den Museen und den Kirchen vergangener Zeiten. An diesen Orten wäre es laut und heftig, kein Gesicht bliebe unbeweglich, an niemandem würden himmelschreiende Ungerechtigkeiten, Leiden und Schmerzen einfach so abprallen. Vielleicht gäbe es ja auch dann noch so etwas wie Museen. Aber in diesen Museen wären dann nicht mehr Bilder idyllischer Landschaften, vielfarbiger Blumensträusse in kunstvollen Vasen und abstrakter Symbole und Muster zu bewundern, denen niemand einen Sinn abzuringen vermag. In diesen Museen wären die Zeugnisse einer Zeit unbeschreiblicher sozialer Ungerechtigkeit zu sehen, einer Zeit unbegreiflicher Zerstörungswut gegenüber der Erde, den Tieren und den Pflanzen und einer Zeit, da einzelne Menschen andere in den Krieg schickten, bloss um sich dadurch masslos zu bereichern. Einer Zeit, von der die Menschen eines Tages wohl nicht mehr begreifen werden können, dass dies alles auf dieser Erde einmal Wirklichkeit gewesen war und sich so viele Menschen, still, schlafwandelnd und andächtig durch die Hallen vergangener Zeiten wandelnd, offensichtlich so sehr an dies alles gewöhnt hatten, dass schon fast niemand mehr auf den Gedanken kam, sich mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft dagegen aufzulehnen.