Im Kapitalismus gibt es keine ausgleichende Gerechtigkeit

«Gesundheit ist der grösste Reichtum», heisst es. Doch auch dieser ist wohl eher den Vermögenden vergönnt als den Armen: In der Schweiz etwa sterben Frauen und Männer in Wohngegenden mit niedrigem sozioökonomischem Status zweieinhalb beziehungsweise viereinhalb Jahre früher als ihre Landsleute in wohlhabenden Quartieren. In den USA leben Männer aus der untersten sozialen Schicht im Durchschnitt sogar 15 Jahre weniger lang als Männer mit dem grössten Einkommen. In Grossbritannien haben Beamte mit dem niedrigsten Dienstgrad ein zweimal so hohes Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall als ihre Vorgesetzten mit höchster Besoldungsstufe.

(NZZ, 11. Januar 2019)

Im Kapitalismus gibt es keine ausgleichende Gerechtigkeit. Wer hart arbeitet und wenig verdient, wird zusätzlich noch damit bestraft, dass er eine schlechtere Gesundheit hat, weniger gesellschaftliches Ansehen geniesst, von zahlreichen Freizeitangeboten ausgeschlossen bleibt, sich mit einer kleineren, weniger komfortablen Wohnung zufrieden geben muss, sich keine teuren Kleider, Schuhe, Autos und Ferienreisen leisten kann und erst noch weniger lange lebt. Während sich jene, die oft eine angenehmere und vielseitigere Arbeit haben und dennoch damit mehr Geld verdienen, sich alles Mögliche leisten können, eine bessere Gesundheit haben und erst noch länger leben. Wer behauptet, der Kapitalismus habe viel Wohlstand gebracht, müsste ehrlicherweise eingestehen, dass der Kapitalismus vor allem auch viel soziale Ungerechtigkeit gebracht hat, indem dieser vielgelobte «Wohlstand» höchst ungerecht verteilt ist.