“Im Jugendidealismus erschaut der Mensch die Wahrheit…”

 

“Er räuspert sich oft, stockt und weicht nie auch nur einen Zentimeter von der bis ins Detail austarierten NATO-Sprachregelung ab – ein sicherer Wert für den Westen” – so beschreibt das “Tagblatt” vom 21. März 2022 den 63jährigen NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, das unverkennbare Gesicht jenes 30 Mitglieder umfassenden westlichen Militärbündnisses, das in den Monaten seit der russischen Invasion in die Ukraine zu einer nie dagewesenen Geschlossenheit und Einmütigkeit zusammengefunden hat. Nur ungern lässt sich Stoltenberg daran erinnern, dass da in seiner Jugendzeit alles ganz anders gewesen war: In den 1970er-Jahren nämlich demonstrierte der spätere NATO-Chef mit langen Haaren gegen den Vietnamkrieg. Und als Chef der sozialdemokratischen Jugend Norwegens kämpfte er sogar für den Austritt seines Landes aus dem westlichen Verteidigungsbündnis. Das sei Jahrzehnte her und da sei er eben noch ein “junger Mann” gewesen und hätte “absolut falsche Positionen” vertreten, meint Stoltenberg heute entschuldigend. Doch Stoltenberg ist nicht der Einzige, der als “junger Mann” Positionen vertrat, von denen er heute nichts mehr wissen will. Auch schweizerische SP-Nationalrätinnen und SP-Nationalräte wie Tamara Funicelli, Fabian Molina und Cédric Wermuth – um nur einige wenige zu nennen – kämpften in ihrer Jugendzeit für die “Überwindung des Kapitalismus”, für eine Vision, von der sie längst Abschied genommen zu haben scheinen, die zumindest in ihrer heutigen realpolitischen Arbeit kaum je sichtbar ist und von der sie wahrscheinlich ebenfalls als von einer längst überwundenen “Jugendsünde” sprechen würden. So wie der Davoser Landammann Philipp Wilhelm, der als “junger Mann” und Globalisierungskritiker aus Überzeugung gegen das WEF demonstrierte, heute sich aber, wie das “Tagblatt” m 23. Mai 2022 schreibt, “darauf freut, dass das Treffen nach der Covid-Zwangspause wieder stattfinden kann.” So geht das. So werden sie zurechtgeschliffen. So werden aus aufmüpfigen, revolutionären, widerspenstigen jungen Menschen nach und nach so ganz richtig “vernünftige” und “korrekt” funktionierende Erwachsene, die selbst ihre eigenen früheren Überzeugungen verleugnen, ins Lächerliche ziehen oder sich sogar dafür entschuldigen. “Im Jugendidealismus”, sagte der bekannte Urwalddoktor Albert Schweitzer, “erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt austauschen soll.” Es ist der verhängnisvollste Fehler des herrschenden Erziehungssystems, dass alles darauf ausgerichtet ist, aus Kindern und Jugendlichen möglichst schnell und effizient möglichst gut “funktionierende” Erwachsene heranzubilden, während es doch eigentlich das Ziel jedes Menschen sein müsste, möglichst lange, bis zum Ende seines Lebens, ein Kind zu bleiben. “Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben”, sagte der italienische Dichter Dante Alighieri, “Sterne, Blumen und Kinder.” Tragen wir ihnen Sorge, den Kindern, nicht nur ihnen selber, sondern vor allem auch ihren Gedanken, ihren Visionen, ihren Träumen, den in ihnen liegt so unendlich viel Wahrheit. Wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll, dann müssen wir diese Funken aus dem Paradies zum Anfang werden lassen für eine neue Zeit, in der sich nie mehr ein Erwachsener dafür entschuldigen müsste, woran er in seiner Kindheit und seiner Jugendzeit gedacht, woran er geglaubt und wofür er gekämpft hatte. Eine neue Zeit, in der nicht mehr die Ideale und Visionen der Kinder und Jugendlichen der Erwachsenenwelt geopfert werden, sondern, im Gegenteil, die Erwachsenenwelt von den Kindern und Jugendlichen inspiriert wird, eine andere, neue Welt zu werden. “Trenne dich nie von deinen Illusionen und Träumen”, sagte der amerikanische Schriftsteller Mark Twain, “denn wenn sie verschwunden sind, wirst du zwar noch weiter existieren, aber aufgehört haben zu leben.”