Frauenrenten und Männerrenten: «Ich wundere mich, dass die Frauen angesichts dieser Ungleichheit nicht aufschreien»

Viele Angestellte, die bei Gastro Social, der Pensionskasse des früheren Wirteverbands, versichert sind, werden einmal mit einer kleinen Rente auskommen müssen. Im Durchschnitt zahlt die Kasse heute Renten von 600 Franken im Monat. Das reicht den Empfängern selbst mit der AHV zusammen kaum zum Leben. Eine Erhebung des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes zeigt, dass auch die Renten der beruflichen Vorsorge im Detailhandel und in der Coiffeurbranche nicht viel höher sind als in der Gastronomie. Die Pensionskasse Coiffure & Esthétique bezahlt durchschnittlich 800 Franken pro Monat aus, jene von Coop 1390 Franken und von Manor 1410 Franken. Gemäss einer Untersuchung des Bundesamtes für Sozialversicherungen sind Frauenrenten aus der beruflichen Vorsorge um satte 63 Prozent tiefer als jene der Männer. «Ich wundere mich, dass die Frauen angesichts dieser Ungleichheit nicht aufschreien», sagt SGB-Zentralsekretärin Gabriela Medici.

(Tages-Anzeiger, 31. Oktober 2019)

Dass die betroffenen Frauen nicht «aufschreien», hat wohl wesentlich damit zu tun, dass sie durch ihre berufliche Tätigkeit sozusagen daran gewöhnt sind, die Wünsche anderer Menschen zu erfüllen und ihre eigenen Bedürfnisse hintenanzustellen, und dies auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Machtpyramide. Es handelt sich dabei um einen eigentlichen Systemfehler: Berufliche Tätigkeiten, bei denen das Dienen, Bedienen und das Erbringen von Dienstleistungen im Mittelpunkt stehen, werden schlechter entlöhnt und geniessen ein geringeres gesellschaftliches Ansehen als jene beruflichen Tätigkeiten, bei denen das Planen, Organisieren und Befehlen im Vordergrund stehen. Eine Ungerechtigkeit, die sich durch die gesamte Geschichte des Kapitalismus hindurchzieht, von der Sklavenarbeit auf den nordamerikanischen Plantagen des 17. Jahrhunderts über die Fabrikarbeit zu Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert bis zu den «modernen» Dienstleistungsberufen des 21. Jahrhunderts, angefangen von den Köchen und Kellnern auf  Kreuzfahrtschiffen und in Luxushotels über Coiffeusen, Kosmetikerinnen, Krankenpflegerinnen bis zu Verkäuferinnen, Zimmermädchen und Prostituierten. Das zutiefst Ungerechte daran ist, dass die dienenden Arbeiten zumeist viel anstrengender, beschwerlicher und unangenehmer sind und dennoch schlechter bezahlt sind als die planenden, organisierenden und befehlenden Tätigkeiten. Dies ist freilich kein Zufall: Die planenden, organisierenden und befehlenden Berufsleute verfügen über die Macht, jegliche unangenehme und beschwerliche Arbeit an andere zu delegieren bzw. diese für sich arbeiten zu lassen. Eigentlich müssten so gesehen die dienenden Berufsleute eher ein höheres Einkommen haben wie die planenden und befehlenden. Das Mindeste wäre eine Einheitslohn. Und dann wäre auch das Problem mit den Renten gelöst: Sie wären dann nämlich für alle gleich. Denn es kann ja nicht sein, dass Menschen, die ein Leben lang zu geringem Lohn schwer gearbeitet haben, zuletzt, nach der Pensionierung, als «Belohnung» für all die jahrzehntelange Plackerei auch noch mit einer Rente Vorlieb nehmen müssen, von der sie nicht einmal anständig leben können.