Hunger und Gewalt in Haiti: Doch immer noch wird uns Menschen in den reichen Ländern des Nordens vorgegaukelt, unser Reichtum hätte nichts zu tun mit der Armut und dem Hunger in den Ländern des Südens…

 

“Laut den Vereinten Nationen”, so berichtet der “Tagesanzeiger” am 14. Juni 2023, “gab es allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres mehr als 800 Morde in Haiti. Dazu kommen Hunderte Entführungen und systematische, massenhafte Vergewaltigungen.” Haiti, das ärmste Land der westlichen Hemisphäre, stehe am Abgrund, insgesamt 4,9 Millionen Menschen – fast die Hälfte der Bevölkerung – wüssten nach Angaben der Vereinten Nationen nicht, wie sie sich dauerhaft ernähren könnten. In dieser verzweifelten Lage würden immer mehr Menschen das Gesetz selber in die Hand nehmen: “Am 24. April schlug die Verzweiflung endgültig in Wut um, Passanten zerrten in Port-au-Prince Gangmitglieder, die bereits verhaftet worden waren, aus einem Polizeiauto, verprügelten sie, wuchteten Reifen auf sie, kippten Benzin darüber und verbrannten sie bei lebendigem Leib. Von da an war es, als hätte sich eine Schleuse geöffnet: Bilder und Videos von den Lynchmorden machten im Nu die Runde und bald zogen auch anderswo Mobs mit Stöcken und Macheten bewaffnet durch die Strassen und jagten Kriminelle, es entstand eine eigentliche Selbstjustiz- und Bürgerrechtsbewegung.”

Was der “Tagesanzeiger” verschweigt: Dass zur gleichen Zeit, da die Hälfte der haitianischen Bevölkerung hungert und sich die Gewalt im Lande immer hemmungsloser ausbreitet, Unmengen an Kaffee, Kakao, Zuckerrohr, Sisal, Mango und Vetiveröl aus Haiti in die reichen Länder des Nordens exportiert werden. Beim Vetiveröl, das für die Herstellung von Parfüms und für Aromatherapien verwendet wird, beträgt der Anteil Haitis an der gesamten Weltproduktion sogar rund 50 Prozent. Auch verschwiegen wird, dass Haiti im Jahre 2022 Waren im Wert von etwa 910 Millionen US-Dollar exportierte, gleichzeitig aber Waren im Wert von drei Milliarden US-Dollar importierte, was die ohnehin schon verheerende Verschuldung des Landes erheblich weiter verschärfte, und das nur, weil exportierte Nahrungsmittel auf dem Weltmarkt einen so viel tieferen Preis haben als die importierten, industriell gefertigten Fertigprodukte. Und schliesslich wird auch verschwiegen, dass die katastrophale Ernährungssituation des Landes vor allem damit zu tun hat, dass in den 1980er und 1990er Jahren die meisten für die Versorgung mit lebensnotwendigen Nahrungsmitteln arbeitenden Kleinproduzentinnen und Kleinproduzenten verdrängt wurden, während gleichzeitig die Importe von subventioniertem US-Reis und Zucker massiv gesteigert wurden.

So hängen auch heute noch die Armut im Süden und der Reichtum im Norden unauflöslich miteinander zusammen und die kolonialistische Ausbeutung geht allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz bis in unsere Tage nahtlos weiter. Doch immer noch wird uns Menschen in den reichen Ländern des Nordens vorgegaukelt, unser Reichtum hätte nichts zu tun mit der Armut und dem Hunger in den Ländern des Südens. In Tat und Wahrheit aber machen wir uns mit jeder Tasse Kaffee, die wir trinken, mit jeder Tafel Schokolade, die wir essen, und mit jedem Tropfen Parfüm, das wir uns auf die Haut spritzen, am Elend, am Hunger und an der gegenseitigen Gewalt all jener Menschen schuldig, denen die eigene Erde entrissen wurde und die in einen nicht endenden Sklavendienst gezwungen wurden, nur damit multinationale Konzerne laufend wachsende Milliardengewinne scheffeln können und unser “Wohlstand”, der im Grunde nichts anderes ist als reiner Luxus auf Kosten anderer, ungehindert weiter bestehen kann. Weshalb eigentlich müssen nur Zigarettenpackungen mit der Etikette “Rauchen ist tödlich” versehen werden und nicht auch die Packungen mit Kaffeebohnen, Mango, Schokolade und die Fläschchen mit Aromen und Parfüms in Hotels und Wellnessoasen? Oder haben 500 Jahre kapitalistischer Gehirnwäsche in unseren Köpfen schon so unauslöschlich ihre Spuren hinterlassen, dass uns nicht einmal mehr dies zu erschrecken und aufzuwecken vermöchte?