Hunger hier, Milliardengewinne dort: Die beiden Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Münze

 

Wie UN-Generalsekretär Antonio Guterres Mitte Mai 2022 berichtete, hat die Zahl der weltweit Hungernden einen neuen Höchststand erreicht. In den letzten zwei Jahren habe sich die Zahl der Menschen, die unter Mangelernährung leiden, von 135 auf 275 Millionen mehr als verdoppelt. Eine wesentliche Ursache dafür liegt, wie ein kürzlich veröffentlichter Bericht der Entwicklungsorganisation Oxfam feststellt, bei den Lebensmittelpreisen, welche in den letzten zwei Jahren weltweit um 33,5 Prozent gestiegen seien und im Verlaufe des Jahres 2022 voraussichtlich um weitere 23 Prozent steigen würden. Wenn Menschen hungern, dann also nicht etwa deshalb, weil insgesamt weltweit zu wenige Nahrungsmittel vorhanden wären – die reichen Länder des Nordens können sich sogar, wie der WWF unlängst berichtet hat, den unverschämten Luxus leisten, rund 40 Prozent aller gekauften Nahrungsmittel im Müll landen zu lassen. Hunger ist menschengemacht. Hunger ist die Folge eines Wirtschaftssystems, in dem die Güter nicht dorthin fliessen, wo die Menschen sie am dringendsten brauchen, sondern dorthin, wo genug Geld ist, um sie kaufen zu können. Und der Hunger ist vor allem auch ein Riesengeschäft für jene, die selber nicht davon betroffen sind: So stiessen in den vergangenen zwei Jahren aus dem Kreis der Besitzer und Manager von multinationalen Lebensmittelkonzernen nicht weniger als 62 neue Milliardäre in den Club der weltweiten Superreichen. Der Lebensmittelmulti Cardill, der zusammen mit vier weiteren Unternehmen mehr als 70 Prozent des weltweiten Markts für Agrarprodukte kontrolliert, verzeichnete 2021 mit fünf Milliarden Dollar das beste Ergebnis seiner Geschichte und zahlte 1,13 Milliarden Dollar Dividenden aus. Das Gesamtvermögen der Familie Cardill stieg seit 2020 um 14,4 Milliarden Dollar, also um 65 Prozent, das sind fast 20 Millionen Dollar pro Tag, und dies vor allem dank dem Anstieg der Lebensmittelpreise. Und der Agrarrohstoffhändler Louis Dreyfus, einer der Hauptrivalen von Cargill, konnte 2021 seine Profite ebenfalls wegen der gestiegenen Preise für Getreide und Ölsamen um satte 82 Prozente steigern. Selbst die nicht als radikale Kapitalismuskritikerin bekannte neuseeländische Premierministern Jacinda Ardern sagt: “Der Kapitalismus hat die Menschen im Stich gelassen. Wenn es Hunderttausende von Kindern gibt, die nicht genug zum Überleben haben, ist das ein eklatanter Misserfolg. Wie könnte man es sonst beschreiben?” Ein eklatanter Misserfolg. Dabei ist das Geschäft mit Lebensmitteln auf der einen Seite, zunehmende Hungersnöte auf der andern ja nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs, der in den Bergwerken Afrikas, den Kaffee- und Bananenplantagen Südamerikas und in den Textilfabriken Vietnams und Bangladeschs beginnt und auf dem Tablett unzähliger Luxusvergnügungen für die Reichen und Reichsten in den Ländern des Nordens endet. Kapitalismus sei das denkbar erfolgreichste Wirtschaftssystem, wird immer wieder behauptet. Das stimmt sogar. Aber nur, so lange man es aus der Sicht der Reichen und derer, die daraus ihren Profit ziehen, betrachtet. Auf der anderen Seite stehen das nackte Elend, unsägliche Armut, tödliche Krankheiten und der frühe Tod aufgrund von Überarbeitung, fehlender Gesundheitsversorgung und mangelhafter Ernährung. Noch schlimmer wird es, wenn man in die Zukunft schaut: Mit dem kapitalistischen Dogma, wonach Wachstum das oberste Gebot jeder erfolgreichen Form von Wirtschaft zu sein habe, und der damit verbundenen und immer weiter um sich greifenden Plünderung aller natürlicher Ressourcen, gefährdet der Kapitalismus nicht nur das Leben der heutigen, sondern gleich auch noch jenes aller zukünftigen Generationen. “Kapitalismus tötet” – diese Aussage von Papst Franziskus bringt es so kurz, so klar und so deutlich auf den Punkt, dass man dem eigentlich nichts mehr beifügen müsste. Doch wie ist es möglich, dass sich ein so zerstörerisches Wirtschaftssystem, das zu einer historisch derart einmaligen sozialen Ungleichheit geführt hat und selbst die gesamte Zukunft der Menschheit aufs Spiel setzt, immer noch und so lange schon an der Macht halten kann? Eine der wichtigsten Gründe liegt wohl darin, dass im Laufe der “Globalisierung” des Kapitalismus ein so weit verzweigtes, undurchsichtiges weltweites Machtsystem die Oberhand gewonnen hat, dass sämtliche Verbindungen zwischen Tätern und Opfern gar nicht mehr zu erkennen sind. Würde nämlich der Konzernchef oder der Besitzer eines dieser multinationalen Lebensmittelkonzerne drei- oder vierjährige Kinder irgendwo in Afrika eigenhändig umbringen, dann würde wohl ein so gewaltiger Aufschrei durch die Welt gehen, dass die Machenschaften des betreffenden Konzerns sogleich eingestellt werden müssten. So aber können die Konzernchefs und die Aktionäre fein säuberlich in klimatisierten Büros und Konferenzsälen sitzen, während gleichzeitig jeden Tag Zehntausende von Kindern am anderen Ende der Welt unter unvorstellbaren Qualen ihr Leben verlieren, ganz so, als hätte das eine mit dem andern nicht das Geringste zu tun. 500 Jahre kapitalistischer Gehirnwäsche haben unser Denken geraubt, haben uns eingetrichtert, dass der Kapitalismus die einzige mögliche Art ist, wie Gesellschaft und Wirtschaft zu organisieren sind, haben in uns die alles beherrschende Lüge eingepflanzt, wonach das Leben auf diesem Planeten ein permanenter Wettkampf aller gegen alle sei, aus dem stets wieder die einen als Sieger hervorgehen und alle anderen an ihren Niederlagen, ihrem Versagen und ihrem Leiden ganz und gar selber Schuld seien. Was wird, wenn dann endlich einmal alles vorüber ist, in den Geschichtsbüchern zukünftiger Generationen wohl dereinst über das Zeitalter des Kapitalismus geschrieben sein?