Häusliche Gewalt: Wenn unsichtbare in sichtbare Gewalt umschlägt…

 

Eine von der Dachorganisation der Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein (DAO) in Auftrag gegebene Studie, so berichtet der “Tagesanzeiger” vom 10. November 2021, kommt zum Schluss, dass bei der Häufigkeit häuslicher Gewalt die Höhe des Einkommens eine wesentliche Rolle spielt: “Wer unter 4000 Franken im Monat verdient, ist von häuslicher Gewalt stärker betroffen als jemand mit einem Lohn über 10’000 Franken. Hingegen haben das Bildungsniveau und die Nationalität weniger Einfluss.” Der Zusammenhang zwischen Einkommen und häuslicher Gewalt ist offensichtlich. Doch wie ist das zu erklären? Es scheint, neben der “sichtbaren”, sich in individuellen Einzelfällen zeigenden Gewalt, noch eine zweite Form von Gewalt zu geben, die man als “unsichtbare” Form von Gewalt bezeichnen könnte, jene Form von Gewalt nämlich, welche von den herrschenden sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen ausgeübt wird und das tägliche Leben tiefgreifend prägt, je nach Beruf und sozialem Status der betroffenen Menschen. “Unsichtbare” Gewalt, so wie sie sich auf das Leben von Menschen in bescheidenen finanziellen Verhältnissen auswirkt, ist vor allem die soziale Ungerechtigkeit, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, das Gefühl, gegenüber anderen Menschen benachteiligt zu sein und auf vieles verzichten zu müssen, was für andere selbstverständlich ist, dann aber auch die tägliche schwere Arbeit zu geringem Lohn und mit wenig Wertschätzung, der Konkurrenzdruck im gegenseitigen Kampf ums Überleben sowie häufige Erkrankungen und Verletzungen durch körperliche und seelische Überbelastung und die viel kürzere Lebenserwartung im Vergleich zu den bessergestellten Bevölkerungsgruppen. So ist es kein Zufall, dass häusliche Gewalt vor allem bei den “tieferen” sozialen Schichten vorkommt. Denn erwiesenermassen hat das Ausüben von Gewalt stets wieder neue Gewalt zur Folge: Die Gewalt, welche dem Einzelnen durch das “System” der unsichtbaren Gewalt angetan wird, äussert sich wieder in neuer Gewalt, die anderen, noch Schwächeren zugefügt wird. Diese Zusammenhänge werden in der Öffentlichkeit kaum thematisiert. Im Gegenteil: Während die unsichtbare “Systemgewalt” fraglos akzeptiert und als “gottgegeben” hingenommen wird, geht immer dann, wenn die unsichtbare in sichtbare Gewalt umschlägt, ein Schrei der Empörung durchs ganze Land. Und auch die erwähnte, von der DAO veranlasste Studie geht in ihren Vorschlägen zur Prävention nicht über reine Symptombekämpfung hinaus: Gewaltprävention, ist da zu lesen, müsse vermehrt an Schulen und Ausbildungsorten erfolgen und Mitarbeitende von Polizei, Justiz und Sozialdiensten müssten eine obligatorische Schulung zu häuslicher Gewalt und dem Umgang mit Opfern erhalten. Das greift eindeutig zu kurz, wieder wird die gesellschaftliche, systembedingte unsichtbare Gewalt nicht einmal ansatzweise angetastet. Das Problem liegt auch darin, dass sich die jeweiligen zuständigen Fachpersonen infolge zunehmender Spezialisierung stets nur um ihren Fachbereich kümmern, also um die jeweils manifest gewordenen Fälle von sichtbarer Gewalt – während sich niemand mit dem grossen Ganzen, der unsichtbaren Gewalt, den gesellschaftlichen und systembedingten Ursachen von Gewalt beschäftigt. Doch so lange nicht die unsichtbare Gewalt sozialer Ungerechtigkeit und eines auf Ausbeutung und Profitmaximierung fixierten Wirtschaftssystems beseitigt sind, werden wir auch die Formen sichtbarer Gewalt nicht beseitigen können. Erst in einer Gesellschaft, die von sozialer Gerechtigkeit, einem möglichst geringen sozialen Gefälle, gegenseitiger Wertschätzung und sozialer Sicherheit geprägt ist, werden automatisch auch viel weniger Formen von sichtbarer Gewalt auftreten. Die einzelnen Fälle häuslicher Gewalt sind nicht einfach Untaten einzelner “böser” Menschen. Sie sind Warnzeichen dafür, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Glück, Reichtum und Lebensfreude höchst ungleich verteilt sind…