Guanahani, 12. Oktober 1492: Eine neue Welt entsteht, eine andere geht unter

Dies ist das 1. Kapitel aus meinem Buch PRO MEMORIA – EINE ANDERE GESCHICHTE DES KAPITALISMUS, das voraussichtlich anfangs 2025 erscheinen wird. Eine Geschichte der Schattenseiten des Kapitalismus und der Opfer eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das trotz allem immer noch von vielen als die einzige mögliche und alternativlose Art und Weise angesehen wird, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten organisiert werden kann.

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Es begann mit einem Wettlauf zwischen Portugal und Spanien. Da der seit Jahrhunderten florierende Handel mit Gewürzen und Seide auf dem Landweg zwischen Ostasien und Europa infolge zunehmender Überfälle durch Räuberbanden und hoher Zölle auf Zwischenstationen immer mehr unter Druck geraten war, musste dringend ein neuer Weg zur Aufrechterhaltung der bisherigen Handelsbeziehungen gefunden werden. Während portugiesische Seefahrer diesen neuen Weg rund um die Südspitze Afrikas suchten, wollte es der genuesische Seefahrer Christoph Kolumbus, der von der Kugelgestalt der Erde überzeugt war, in umgekehrter Richtung versuchen. Der Plan ging auf: Im Auftrag des spanischen Königshauses, ausgestattet mit drei Schiffen, stiess Kolumbus nach einer mehr als zwei Monate währenden Fahrt quer über den Atlantik am 12. Oktober 1492 auf Land. Überzeugt, sich auf einer Insel östlich von Indien zu befinden, war Kolumbus tatsächlich aber auf der heutigen Insel San Salvador gelandet, in der Sprache der Eingeborenen Guanahani, im Archipel der Bahamas. Obwohl man eigentlich die vor schätzungsweise rund 15‘000 Jahren aus Asien nach Amerika eingewanderte Urbevölkerung als die wahren «Entdecker» Amerikas bezeichnen müsste und obwohl der Wikinger Leif Eriksson bereits 500 Jahre vor Kolumbus amerikanisches Festland erreicht hatte, wird bis heute jeweils der zweite Montag im Oktober in den USA als «Columbus Day» gefeiert, als die eigentliche «Entdeckung» Amerikas. Den Namen «Amerika» erhielt der neu «entdeckte» Kontinent indessen vom italienischen Seefahrer Amerigo Vespucci im Jahre 1507, ein Jahr nach dem Tod von Christoph Kolumbus, dem zeitlebens nicht bewusst gewesen war, einen – aus der Sicht Europas – «neuen» Kontinent gefunden zu haben.

Doch was aus der Sicht Europas und der westlichen Welt bis heute als der Beginn eines neuen Zeitalters gefeiert wird, war zugleich der Anfang einer Leidensgeschichte voller unvorstellbarer Demütigungen und der fast vollständigen kulturellen Auslöschung jener indigenen Völker, welche während mindestens 15‘000 Jahren – vereinzelt gehen Schätzungen sogar von bis zu 40‘000 Jahren aus – die eigentlichen «Herren» des Kontinents gewesen waren. In immer weiter wachsender Zahl folgten den Entdeckern die Eroberer und die Siedler, vor allem aus England, Frankreich und Spanien, aber auch aus zahlreichen weiteren Ländern Europas, angetrieben von den Verlockungen und der Aussicht auf Reichtum und eine goldene Zukunft in einer «neuen Welt» voller ungeahnter Möglichkeiten und Freiheiten. Und in gleichem Masse, wie sich die Lebensräume der einwandernden Weissen immer weiter ausdehnten, schmolzen die Lebensräume der indigenen Urbevölkerung wie Schnee an der Sonne immer weiter in sich zusammen.

Auch als die nordamerikanischen Kolonien die Unabhängigkeit erkämpft und sich vom britischen Mutterland losgesagt hatten, änderte dies am Schicksal der indigenen Urbevölkerung nicht das Geringste. Im Gegenteil: Obwohl in der Unabhängigkeitserklärung der neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika am 4. Juli 1776 proklamiert wurde, dass «alle Menschen gleich geschaffen und von ihrem Schöpfer mit unveräusserlichen Rechten wie dem Leben, der Freiheit und dem Streben nach Glück ausgestattet sind», gingen das Zurückdrängen der Indigenen und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen nahtlos weiter, gehörten sie doch aus der Sicht der Weissen nicht zu jenen Geschöpfen, die «alle gleich geschaffen sind und die gleichen Rechte haben». Bis 1890 in der legendären Schlacht am Wounded Knee auch noch die letzten Reste des verbliebenen indigenen Widerstands für immer gebrochen wurden.

Vier Episoden aus dieser unbeschreiblichen Leidensgeschichte sollen, stellvertretend für unzählige andere, an dieser Stelle etwas ausführlicher zur Sprache kommen: Die Tragödie der Cherokee, der Goldrausch in Kalifornien, die fast vollständige Ausrottung der Bisons und die Boarding-Schools in den USA und in Kanada. Die Ausführungen stützen sich weitgehend auf das 2017 erschienene Buch «Verlorene Welten» des Schweizer Autors Aram Mattioli.

Erste Episode: Die Tragödie der Cherokee. Bevor sie mit den Weissen in Kontakt kamen, lebte dieses indigene Volk in insgesamt 60 Dörfern der südlichen Appalachen. Die Lebensweise der Cherokee beruhte auf Selbstversorgung, dem Boden als Gemeinschaftsbesitz und auf einer matriarchalen Gesellschaftsstruktur. Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kam es zu ersten Kontakten mit den Weissen, doch dann machten sich in kurzer Zeit immer mehr Siedler auf ihrer Erde breit. Bis 1775 mussten die Cherokee von ihrem Territorium von ursprünglich 325‘000 Quadratkilometern über 125‘000 Quadratkilometer an die Siedler abtreten. Sechzig Jahre später war der Ansturm weiterer Siedler dermassen angestiegen, dass die Regierung des Bundesstaates Georgia die Cherokee endgültig aus ihrer Heimat vertreiben wollte. Heimlich wurde mit einer kleinen Delegation von abtrünnigen Cherokee, die nicht im Namen der grossen Mehrheit ihres Volkes sprachen,  ein Umsiedlungsvertrag ausgehandelt, wonach die Cherokee gegen eine Entschädigung von fünf Millionen Dollar ihr gesamtes übrig gebliebenes, überaus fruchtbares und mit Wäldern gesegnetes Territorium aufgeben und bis zum 23. Mai 1838 in ein von kargem Boden geprägtes Reservat auf dem Gebiet des heutigen US-Bundesstaates Oklahoma ziehen müssten. Doch noch bevor die gesetzte Frist abgelaufen war, marschierte eine von General Winfield Scott befehligte Einheit von 7000 Mann in das Land ein. Scotts Soldaten trieben die Cherokee mit Waffengewalt zusammen, manche traf es bei der Feldarbeit, andere wurden vom Familientisch weggezerrt, vielen verblieb nicht einmal Zeit, das Nötigste einzupacken. Plünderer fielen über ihre Häuser her und raubten Hausrat und Vieh, danach steckte man die Farmen in Brand. Die Gefangenen wurden in 31 Palisadenforts interniert, wo sie unter widrigsten Umständen fünf Monate lang ausharren mussten, bevor sie auf jene Leidensmärsche gezwungen wurden, die sie noch heute in ihrer Sprache den «Pfad der Tränen» nennen. Dieser führte über 1600 Kilometer, auf denen die Cherokee oft brütender Sonnenhitze, dann wieder klirrender Winterkälte ausgesetzt waren, und das bei weit unzureichender Ernährung und mangelnder medizinischer Versorgung. Hunger, Krankheiten und Erschöpfung lichteten ihre Reihen, schätzungsweise kostete die Umsiedlung mindestens 4000 Cherokee das Leben, rund einem Viertel des gesamten Volks.

Zweite Episode: Der Goldrausch in Kalifornien. Er begann am 24. Januar 1848, als der Zimmermann James W. Marshall in einem abgeschiedenen Tal in den Ausläufern der Sierra Nevada zufällig einige Goldkörner entdeckte. Bald erfuhren immer mehr Menschen von dem Fund, weitere Goldfelder wurden entdeckt. Als schliesslich der «New York Herald» im Spätsommer 1848 über die Funde im fernen Westen berichtete, gab es bald kein Halten mehr. In der Hoffnung, schnell reich zu werden, brachen Zehntausende von Abenteuerhungrigen aus den östlichen USA, Mexiko, Südamerika, Westeuropa, Ostasien und Australien ins vermeintliche Eldorado auf. Der Chief des Volkes der Nisenan ahnte, was auf sie zukommen würde, und warnte: «Das gelbe Metall ist eine sehr schlechte Medizin. Es gehört einem Dämon, der alle verschlingen wird, die nach ihm suchen.» Und in der Tat: Schon ein Jahr später war der grösste Teil der auf dem Gebiet der Goldfelder lebenden Indigenen aus ihren Heimstätten vertrieben worden. Als schliesslich in den frühen 1850er Jahren grosse Unternehmen ins Goldgeschäft einstiegen, kam es auch schon zur ersten ganz grossen Umweltkatastrophe, die wir uns heute als Vorläuferin eines seither ungebrochenen weltweiten Feldzugs des masslosen Raubbaus an Bodenschätzen und der Vernichtung natürlicher Lebensgrundlagen bis hin zum heutigen Tag vorstellen können: Als Fördermethoden wurden Hochdruck-Wasserkanonen eingesetzt, mit denen das Erdreich ganzer Hügel in Kanalrinnen gespült und das Gold herausgefiltert wurde. Kräftige Wasserstrahlen jagten Tausende Tonnen Erde, Sand, Geröll und Kies durch hölzerne Kanalsysteme. Zudem führte der immense Bedarf an Brennholz für die Wasserkanonen zu einem unkontrollierten Kahlschlag in den nahegelegenen Wäldern, während das weggespülte Geröll und Erdreich die Flüsse verunreinigte und die natürlichen Lebensräume zerstörte. Dazu kam, dass, um das Gold aus dem Kies und dem Sand zu lösen, hochgiftiges Quecksilber eingesetzt wurde, dem die Arbeiter schutzlos ausgeliefert waren. Der kalifornische Goldrausch, der viele Weisse märchenhaft reich machte und ganze Städte, Fabriken, Strassen, Brücken und Eisenbahnlinien wie Pilze aus dem Boden schiessen liess, bedeutete auf der entgegengesetzten Seite eine Katastrophe gigantischen Ausmasses, schlimmer als jedes noch so schlimme Naturereignis, waren die Indigenen für die aus dem Osten eindringenden Immigranten doch nichts anderes als unliebsame Konkurrenten um Ressourcen wie Land, Wild und Wasser, lästige Hindernisse auf dem Weg zu ihrem persönlichen Glück, in den Augen der allermeisten Siedler nichts anderes als wilde Tiere, die eigentlich keine Daseinsberechtigung haben sollten. «Herumstreunende» Indigene oder solche, die einen «unmoralischen» Lebenswandel pflegten, durften, ebenso wie elternlose indigene Kinder, ganz legal zu Zwangsarbeit verpflichtet werden – von diesem Schicksal waren zwischen 1850 und 1863 nicht weniger als 10‘000 Indigene betroffen, darunter bis zu 5000 Kinder und Jugendliche. Sie wurden von ihren Besitzern gnadenlos ausgebeutet, oft sexuell missbraucht und nicht selten schon wegen kleinster Vergehen bis in den Tod ausgepeitscht. Zahllose indigene Frauen suchten, um ihre Familien vor dem Hungertod zu retten, Zuflucht in der Prostitution und wurden dabei, als rassisch «minderwertig» angesehen, häufig ganz besonders bestialisch behandelt und mies bezahlt. Es scheint fast, als hätten sich die Siedler in Bezug auf ihre Brutalität oft gegenseitig noch zu übertrumpfen versucht. So zwang ein gewisser Carles Stone die von ihm versklavten Indigenen zu schwerster Arbeit bei gleichzeitig völlig unzureichender Ernährung. Als ein hungerndes Kind sein privates Grundstück betrat und um ein wenig Weizen bettelte, erschoss er es kurzerhand. Innerhalb von nur 25 Jahren wurde die indigene Urbevölkerung auf dem Gebiet des heutigen Kalifornien nahezu gänzlich ausgelöscht, auf dem Gebiet eben dieses Kaliforniens, das bis heute als die Verkörperung des amerikanischen Traums gilt und als millionenfach gefeiertes Beispiel dafür, dass jeder Mensch «Schmied seines eigenen Glücks» sei.

Dritte Episode: Die fast vollständige Ausrottung des Bisons. Die rund 30 Millionen Bisons, welche in der Mitte des 18. Jahrhunderts in den Graslandschaften der Grossen Ebenen im mittleren Nordamerika lebten, bildeten für die dort lebenden Völker eine lebenswichtige Nahrungsgrundlage. Doch nicht nur das. Restlos alle Teile der erlegten und sorgfältig zerlegten Beute wurden verwertet, nicht nur Fleisch, Blut, Fett und Häute, sondern auch Knochen, Sehnen, Mägen, Hörner, Hufe und Schädel, selbst der Dung diente als Brennmaterial. Der Bison stand nicht nur im Zentrum der materiellen und spirituellen Kultur der dortigen Völker, er war ihr Leben. Doch das sollte sich grundlegend ändern, als ab etwa 1870 die globale Nachfrage nach Bisonleder explosionsartig zunahm. Das in Eisenbahnwaggons und auf Frachtschiffen verladene Bisonleder wurde in die industriellen Zentren Europas exportiert und dort zu Gürteln, Schuhsohlen, Stiefeln und Antriebsriemen für Maschinen verarbeitet. Zunehmend ihres Frischfleischs beraubt, breiteten sich in den betroffenen Gebieten Hungersnöte aus, die Bevölkerung der Grossen Ebenen sackte zwischen 1870 und 1875 von 5000 auf 1500 zusammen. Dem Hunger folgte 1876/77 ein besonders harter Winter mit Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt, der «Winter der Verzweiflung». Beste Bedingungen für die US-Kavallerie, den Bedrängten, welchen es an Decken, warmen Kleidern und Essen fehlte, an allen Ecken und Enden nachzustellen, ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht und elf Kleinkinder erfroren bei minus 30 Grad, bevor die wenigen Überlebenden in einem Lager der US-Armee Aufnahme fanden. 1881 waren von den ursprünglich 30 Millionen Bisons noch versprengte 800 übrig geblieben, noch nie zuvor war in so kurzer Zeit eine so grosse Tierpopulation vernichtet worden. «Ein kalter Wind», so Häuptling Sitting Bull, «blies durch die Ebenen unserer Erde, ein Todeswind für mein Volk.» Nur wenige Indigene lebten zu diesem Zeitpunkt noch in Freiheit, die allermeisten waren bereits in Reservate abgeschoben worden, die fast ausnahmslos in Gebieten mit kargen Böden oder Wüstenklima ausgesucht worden waren, an denen die weissen Farmer und Rancher kein Interesse hatten. Hier lebten die ehemals so freiheitsliebenden Ureinwohner Nordamerikas eng zusammengepfercht, waren von Nahrungsmittelhilfe abhängig und mussten selbst dann um Erlaubnis fragen, wenn sie das Reservat nur für kurze Zeit verlassen wollten. In beinahe allen diesen Einrichtungen, die eigentlichen Gefangenenlagern glichen, herrschten erbärmliche Lebensbedingungen, extreme Armut und Hoffnungslosigkeit.

Vierte Episode: Die Boarding-Schools in den USA und in Kanada. Ab 1880 gegründet, bestand das Ziel dieser Erziehungsanstalten darin, indigene Kinder so früh wie nur möglich auf den «richtigen», sprich christlichen Glaubensweg zu bringen und jegliche Spuren von so etwas wie «Naturreligionen» so systematisch wie möglich auszulöschen. Im Zentrum der bei sämtlichen indigenen Völker Nordamerikas in unterschiedlichen Varianten verbreiteten Naturreligionen stand nicht die Unterscheidung von Gut und Böse, sondern der Glaube an eine Universalenergie, an eine innere Verwandtschaft aller Dinge und Wesen im gesamten Kosmos und an die Bestimmung der Menschen, im Einklang mit der Natur zu leben. Dem entgegen wurde in den Boarding-Schools die Lehre von den «zwei Wegen» vermittelt: Zum Himmel führt ein goldener Pfad, gesäumt von der Schöpfungslehre, dem Glaubensbekenntnis der Apostel, der Gründung der Kirche, den Sakramenten und theologischen Tugenden, während der schwarze Weg, umgeben von Sünden und Lastern, direkt in den Rachen des Teufels führt. Indigene Kinder wurden zwangsweise in die Boarding-Schools eingewiesen, wehrten sich ihre Eltern dagegen, wurden ihnen die Lebensmittelrationen gekürzt. Die traditionelle Kleidung und der Perlenschmuck der Kinder wurde von den in den Boarding-Schools lehrende Missionaren verbrannt. Nachdem man die Kinder gewaschen und neu eingekleidet hatte, bekamen die Jungen einen Kurzhaarschnitt, die Mädchen eine Frisur in westlichem Stil. Wer sich dagegen zu wehren versuchte, schrie und wild um sich schlug, wurde mit Stricken an den Stühlen festgebunden. Alle Kinder erhielten anstelle ihres indigenen einen christlichen Vornamen. In den Boarding-Schools herrschten strengste Regeln mit genauestens vorgeschriebenen Arbeits- und Gebetszeiten. Auf leichtere Vergehen wie Missachtung der Hausordnung, Unaufmerksamkeit oder Ungehorsam standen als Strafe Essensentzug, Strafarbeit oder Schläge, nach schwereren Vergehen wie etwa einem  Fluchtversuch wurden die Kinder in winzige Arrestzellen eingesperrt, mit Lederriemen ausgepeitscht oder mit Knüppeln geschlagen – Erziehungsmethoden, welche den indigenen Gemeinschaften vollkommen fremd gewesen waren. Sprachen die Kinder miteinander in ihrer eigenen Sprache, drohten Schläge oder es wurde ihnen der Mund mit Lauge ausgewaschen. Indem sie zur Verwendung der englischen Sprache gezwungen wurden, sollten sie befähigt werden, die Welt «mit amerikanischen Augen» zu sehen. Die letzte Boarding-School schloss ihre Tore erst im Jahre 1996! Während in Kanada eine staatlich eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommission im Jahre 2015 die in den Boarding-Schools praktizierten Methoden als «kulturellen Genozid» bezeichnete, ist die Aufarbeitung dieses dunklen historischen Kapitels in den USA bis heute nicht über erste zaghafte Anfänge hinausgekommen. Noch im Sommer 2020 nahm Donald Trump den Schauspieler und Westernheld John Wayne in Schutz, der 1971 in einem Interview gesagt hatte, dass er an eine «natürliche Überlegenheit der weissen Rasse» glaube.

«Nirgends auf der Welt», schreibt der Historiker Howard Zinn in seinem 2007 erschienenen Buch «Eine Geschichte des amerikanischen Volkes», «hat Rassismus über einen so langen Zeitraum eine so wichtige Rolle gespielt wie in den Vereinigten Staaten.» Dies widerspiegelt sich in unzähligen Aussagen von US-amerikanischen Politikern und anderen einflussreichen Persönlichkeiten im Verlaufe der Vertreibung und Vernichtung der indigenen Urbevölkerung Nordamerikas über mehr als zweihundert Jahre hinweg. So sprach Thomas Jefferson, US-Präsident von 1801 bis 1809, von einer «historischen Sonderrolle der Vereinigten Staaten in der Weltgeschichte» und von Nordamerika als dem hierfür «von Gott auserwählten Land». Für ihn stand fest, dass die amerikanischen Ureinwohner auf einer «früheren Stufe der Menschheitsentwicklung stehen geblieben» seien und erst der europäische Mensch die «höchste Stufe» dieser Entwicklung erreicht hätte. Der damalige US-Aussenminister Henry Clay sagte im Jahre 1826, «vollblütige Indianer» seien «von Natur aus minderwertig» und ihr «Verschwinden aus der menschlichen Familie» wäre «kein grosser Verlust für die Menschheit». Theodore Roosevelt, US-Präsident von 1901 bis 1909, forderte die «Pulverisierung» sämtlicher Sozialorganisationen sowie spiritueller und kultureller Praktiken indigener Gemeinschaften. «Ich gehe nicht so weit zu denken», sagte er, «dass die einzig guten Indianer tote sind, aber ich glaube, dass es auf neun von zehn zutrifft.»

Anstelle ihrer traditionellen kulturellen und spirituellen Überlieferungen sollte den Indigenen das neue kapitalistische Gedankengut eingepflanzt werden. In speziellen «Umerziehungsprogrammen» mussten sie lernen, «ich» statt «wir» und «meines» statt «unseres» zu sagen. Denn «Selbstsucht», sagte der US-Senator Henry L. Dawes nach einem Besuch des Cherokee-Reservats im Jahre 1885, «ist die wahre Grundlage der Zivilisation. Bis diese Leute einwilligen, das Land so aufzuteilen, dass jeder auch das besitzt, was er kultiviert, wird es keinen Fortschritt geben.»

Noch heute sehen viele, wenn nicht die meisten US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner in der triumphalen Eroberung Nordamerikas durch die Weissen nichts anderes als die Erfüllung eines Naturgesetzes, wonach sich im Sinne eines «Survivals of the Fittest» am Ende stets die Stärksten und Tüchtigsten durchzusetzen vermögen – die nach wie vor herrschende geistige Grundlage des Kapitalismus, auch wenn das heute fast niemand mehr mit genau diesen Worten so sagen würde.

Bis heute wird in der historischen Forschung darüber gestritten, ob die nordamerikanische Kolonialgewalt gegen die indigene Urbevölkerung unter die Definition der von der Uno im Jahre 1948 beschlossenen Genozidkonvention fällt oder nicht. Fest steht aber, dass Grossbritannien, Frankreich, die USA, Kanada und Australien als ehemalige Kolonialmächte rechtzeitig dafür gesorgt hatten, die systematische kulturelle Zerstörung einer Volksgruppe und die Zwangsassimilation von indigenen Völkern und nationalen Minderheiten nicht in die Genoziddefinition von 1948 einfliessen zu lassen.