Die 55jährige Karin hat infolge einer schweren Krankheit und einer nachfolgenden psychischen Krise vor fünf Jahren ihren Job verloren. Sämtliche Versuche, wieder einen Job zu finden, sind gescheitert. Jetzt lebt sie in einer kleinen Mietwohnung am Rande der Stadt. Ausser zu ihrer älteren Schwester, mit der sie sich allerdings schon vor vielen Jahren heillos zerstritten hat, hat sie mit niemandem Kontakt. Ihr einziger treuer Begleiter ist der Alkohol, er spielt in ihrem Leben eine immer dominantere Rolle. Unlängst war sie dermassen betrunken, dass sie zu Boden fiel und nicht mehr aufstehen konnte, sie schaffte es gerade noch, den Notfalldienst zu alarmieren, lag dann zwei Tage und Nächte im Spital, bis sie sich wieder einigermassen auf den Beinen zu halten vermochte. Jeden Morgen denkt sie, dass es eigentlich schöner gewesen wäre, nicht mehr aufzuwachen.
Monika und Heinz sind in der vollen Mitte des Lebens angelangt, da, wo es am turbulentesten ist und die Belastungskurve ihren höchsten Punkt erreicht. Er arbeitet zu hundert Prozent als Rayonchef in einem Warenhaus und schiebt fast jede Woche mindestens fünf Überstunden, sie hat einen 40-Prozent-Job als Zahnarztassistentin. Drei Kinder haben sie: Tom ist drei Jahre alt, Britta sechs und Christa zehn. Jeder Tag ist von früh bis spät auf die Sekunde durchgetaktet, nicht nur für die Eltern, auch für die Kinder, die rund um die Uhr unterwegs sind, von zuhause in die Kita, von der Kita in den Kindergarten oder in die Schule, von der Schule zum Mittagstisch, vom Mittagstisch zur Hausaufgabenhilfe, von der Hausaufgabenhilfe in die Klavierstunde, von der Klavierstunde zur Nachbarin, welche die Kinder betreut, bis die Eltern wieder zuhause sind, um das Essen zu kochen und die Kinder ins Bett zu bringen. Alles andere, Einkaufen, Arztbesuche, Ferienplanung, Abarbeiten von E-Mails, Einzahlungen, Putzen, Gartenarbeiten, Telefonate mit Freunden und Verwandten, Geburtstagspartys, Einladungen, alles muss irgendwo in die kleinen verbliebenen Lücken hineingepresst werden. Ohne dass sowohl Monika wie auch Heinz je ein eigenes Auto hätten, wäre die Bewältigung dieses täglichen Mammutprogramms unvorstellbar. Am Abend wird oft gestritten, die ältere Tochter meint, das käme sicher von dem vielen Stress. Seit drei Monaten wollten Monika und Heinz wenigstens ein einziges Mal an einem Abend gemütlich miteinander auswärts essen gehen, sie haben es nicht geschafft.
Conchita, die gebürtige Mexikanerin, ist vor vierzig Jahren in die Schweiz gekommen, Ruedi folgend, der sich auf einer Südamerikareise unsterblich in sie verliebt hatte. Sie ist mit Leib und Seele eine Familienfrau, Kochen ist ihre grösste Leidenschaft, Singen und Tanzen, Plaudern und Lachen, Partys feiern und einfach das Leben geniessen – sie könnte die glücklichste Frau der Welt sein. Doch seit die Kinder aus dem Haus sind und Ruedi fast immer geschäftlich unterwegs ist, sitzt sie so oft nur noch weinend am Küchentisch und schiebt die eine oder andere angefangene Näharbeit, das eine oder andere begonnene Kreuzworträtsel, den einen oder anderen angefangenen Brief an ihre Schwester nur noch lustlos hin und her. Fast jeden Tag fragt sie sich, wo die Sonne in ihrem Herzen, die früher so stark gebrannt hatte, wohl untergegangen sein könnte.
Amir aus Afghanistan ist vierzehn Jahre alt, seine Eltern leben nicht mehr, von seinen beiden Brüdern hat sich jede Spur verloren. Jetzt liegt er auf einer Matratze im Büro einer früheren Fabrikhalle, die notdürftig in ein Durchgangsheim für unbegleitete jugendliche Asylsuchende umgebaut wurde, zusammen mit 50 anderen Jugendlichen, viele von ihnen ebenfalls aus Afghanistan, andere aus Syrien oder Eritrea. Computerspiele, in denen sich grüne, schwarze und gelbe Männchen gegenseitig abschiessen, sind zurzeit sozusagen sein einziger Lebensinhalt. Ein etwas älterer Junge, der aus der gleichen Gegend stammt wie er, hat ihm erzählt, dass junge heimatlose Menschen wie sie hier, im Land ihrer Träume, von vielen Menschen ganz und gar nicht erwünscht seien und es sogar nicht wenige gäbe, denen es am liebsten wäre, sie wären gar nicht da.
Die 36jährige Andrea kümmert sich seit ihrer Scheidung vor einem halben Jahr alleine um ihren dreieinhalbjährigen Sohn Leon und um den Haushalt. Um über die Runden zu kommen, hat sie zwei Jobs angenommen, einen bei einer Steuerbehörde, den anderen als Hauswartin, dennoch reicht das Geld nur für das Allernotwendigste. Ohne ihre Eltern, die bei der Betreuung ihres Kindes einspringen, würde sie es nicht schaffen. Die pausenlose Mehrfachbelastung setzt ihr dermassen zu, dass ihr schon beim Aufwachen am Morgen schlecht ist und sie jeden Tag nur darauf wartet, bis wieder Abend ist und sie sich ins Bett legen kann. Am meisten leidet sie darunter, dass Leon so oft weint, weil sie so wenig Zeit mit ihm verbringen kann.
Anna, in einem kleinen sizilianischen Bergdorf aufgewachsen und mit ihrem Mann Roberto im Alter von 24 Jahren in die Schweiz gekommen, ist seit einem schweren Verkehrsunfall, bei dem sie im Alter von 54 Jahren auf einem Fussgängerstreifen von einem Lastwagen überfahren wurde und nur mit einer Riesenportion Glück überlebte, zu hundert Prozent pflegebedürftig. Die inneren Verletzungen waren so schwer, dass Anna heute nur noch im Bett liegen kann und rund um die Uhr betreut werden muss. Ein kompliziertes, extra für sie entwickeltes Gerät überwacht pausenlos ihre Körperfunktionen, mindestens einmal pro Stunde muss überprüft werden, ob alles in Ordnung ist. Glücklicherweise haben Anna und Roberto eine so grosse Verwandtschaft, dass man genug Geld zusammenbrachte, damit sich Roberto, der als Maurer gearbeitet hatte, frühzeitig konnte pensionieren lassen. Er wurde zum Vollzeitpfleger. Denn Anna hätte sich niemals vorstellen können, das geliebte Haus zu verlassen und in einem Pflegeheim zu leben. Dieser Wunsch seiner Frau war Roberto heilig. Und so kann er nun sein Haus, wenn er nicht das Leben seiner Frau gefährden will, allerhöchstens für eine Stunde verlassen, und das seit Jahren. Mit Freunden am Abend in einer Kneipe ein Bier trinken, einen kleinen Ausflug übers Wochenende, Boccia spielen oder ins Kino gehen – alles nur noch Erinnerungen an frühere, längst vergangene Zeiten…
Edith und Herbert, sie Lehrerin an einer Oberstufe, er Berufsschullehrer, stecken schon seit einem halben Jahr in einer ganz dicken Ehekrise. Kaum eine Mahlzeit ohne gegenseitige Sticheleien, Vorwürfe und Streit. Erst recht schlimm geworden ist alles, seit sich Amanda, ihre 16jährige Tochter, völlig zurückgezogen und abgekapselt hat. Alles Zureden nützt nichts, Amanda schliesst sich Tag und Nacht in ihr Zimmer ein, verlässt es fast nie und lässt ihre Musik so laut durch alle Wände dröhnen, dass es ihren Eltern auch noch den letzten Nerv ausreisst. Sämtliche Kontakte mit ihren früheren Freundinnen hat sie abgebrochen, nach einem sehr belasteten letzten Schuljahr mit vielen Absenzen weist sie alles, was mit Zukunftsplanung und der Bewerbung für eine Lehrstelle oder eine weiterführende Schule zu tun hat, weit von sich. Seit Wochen trägt sie nur noch schwarze Kleider und hat schon mehrere Kilos abgenommen. Selbst dem Vorschlag ihrer Mutter, sich an eine Beratungsstelle zu wenden, verweigert sie sich mit Haut und Haaren. Edith und Herbert schieben einander die Schuld in die Schuhe und werfen sich gegenseitig vor, sich schon seit Jahren viel zu wenig um Amanda gekümmert zu haben.
Schliesslich ist da noch, wie ihn seine Enkelkinder nennen, der 75jährige Opa Wuzz. Ein Büchernarr, Philosoph und Schreiberling. Seit seine Frau gestorben ist, die Familie seines Sohnes in Deutschland lebt und die Familie seiner Tochter nach Australien ausgewandert ist, ist es recht einsam geworden um ihn. Manchmal, wenn er abends sein Tagebuch hervornimmt und seine Gedanken aufschreibt, tropft eine Träne auf seine alte, verwackelte Schrift und in der Erinnerung fliegt er in die Zeit zurück, als seine Frau noch lebte und seine Kinder mit ihr und ihm auf dem Jahrmarkt Zuckerwatte schleckten, er am Kindergeburtstag seine legendären Schnitzeljagden organisierte und sie gemeinsam im Wald ein Feuer entzündeten und Würstchen grillierten.
Eigentlich ist es verrückt. Die einen fühlen sich so einsam, dass sie manchmal am liebsten sterben würden – die anderen gehen sich gegenseitig dermassen auf die Nerven, dass sie oft davon träumen, am liebsten ganz alleine irgendwo auf einer fernen Südseeinsel zu sein. Den einen ist so langweilig, dass sich jeder einzelne Tag wie eine Ewigkeit anfühlt – die Tage der anderen sind dermassen ausgefüllt und ihre Terminkalender so vollgestopft, dass sie jeden Abend nur noch völlig erschöpft ins Bett fallen und die Liste mit allen unerledigten und hinausgeschobenen Pendenzen gleichzeitig immer länger und länger wird. Die einen leben alleine in einem viel zu grossen Haus mit einem viel zu grossen Garten, der meistens leer ist – die anderen müssen sich in winzige Mietwohnungen zwängen und ihre Kinder werden schon am frühen Morgen von einer pingeligen Hauswartin beschimpft, weil sie mit farbigen Kreiden den Vorplatz beim Hauseingang vollgemalt haben. Die einen verbringen Stunden damit, herauszufinden, wo sie all das Geld, welches sie für ihren täglichen Lebensunterhalt gar nicht brauchen, möglichst gewinnbringend anlegen können – die anderen schätzen sich schon glücklich, wenn sie sich überhaupt bis zum letzten Tag des Monats wenigstens eine einzige warme Mahlzeit leisten können.
“Eltern-Burn-Out”, schreibt “20Minuten” am 28. August 2024, “ist keine Seltenheit mehr. Der Spagat zwischen Beruf und Familie fordert seinen Tribut. Ein Phänomen, das in den vergangenen Jahren massiv zugenommen hat.” Kein Wunder, gibt es immer mehr Paare, die kinderlos bleiben und sich all die Belastungen im Zusammenhang mit dem Aufbau einer Familie nicht mehr zumuten möchten. Neue Zahlen, so berichtete der “Tagesanzeiger” am 6. November 2023, zeigen, dass es im Verhältnis zur Bevölkerung in der Schweiz noch nie so wenige Geburten gab. Eine 49Jährige wird im Artikel mit den Worten zitiert, sie sei “jeden Tag dankbar”, dass sie sich gegen Kinder entschieden habe. Erst recht, wenn sie sehe, womit sich ihre Freundinnen und Freunde “herumschlagen” müssten. So viele Mütter, meint sie, würden unter dieser Last leiden und erzählen, wie anstrengend es sei. Alles werde teurer, es fehle an Lehrkräften und Kinderärzten, dem Klima gehe es schlecht und immer wieder käme es zu Kriegen. Weitere Gründe, keine Kinder haben zu wollen, seien die viel zu teuren Krippenplätze, Stress mit der Schule, mit Drogen, Drama bei den Hausaufgaben, psychische Probleme bereits in jungen Jahren, überteuerte Sommerferien mit schlechter Stimmung, Unfälle, Schlafmangel und vor allem: Sorgen, Sorgen, Sorgen.
Überbelastung von Familien auf der einen Seite, sozialer Rückzug auf der anderen: “Wie in allen Industrieländern”, schreibt die “NZZ am Sonntag” vom 14. Juli 2024, “nimmt auch in der Schweiz die Anzahl einsamer Menschen tendenziell zu. Die Ursachen sind vielfältig, es können Mobbingerfahrungen sein, soziale Ängste, schwierige Erfahrungen mit der Familie, der Druck der Leistungsgesellschaft sowie die sozialen Netzwerke, die einem ständig suggerieren, dass man nicht hübsch oder erfolgreich genug sei. In einer Gesellschaft, die fast andauernd bewertet, ist es nicht einfach, sich zugehörig zu fühlen.” Die Folgen von Einsamkeit können verheerend sein. Studien beurteilen sie als genauso gefährlich für die Gesundheit wie das Rauchen und sogar schädlicher als Alkoholabhängigkeit. Wer sich häufig oder über längere Zeit einsam fühlt, hat ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen oder Stoffwechselprobleme und trägt in der Regel auch ein erhöhtes Sterberisiko. Einsamkeit kann aber auch dazu führen, dass sich Menschen, die ihre Sorgen mit niemandem teilen können und ihre Verzweiflung über Jahre ganz alleine in sich hineinfressen, plötzlich eines Tages auf ganz aussergewöhnliche Weise Aufmerksamkeit zu verschaffen versuchen. So führten die Spuren einer Serie mehrerer Brandstiftungen im zürcherischen Elgg anfangs 2024, wie der “Tagesanzeiger” am 12. Juli 2024 berichtete, schliesslich zu einer alleinstehenden 44jährigen Frau, die über Jahre völlig zurückgezogen gelebt und mit niemandem Kontakt gehabt hatte. Und in St. Gallen griff am 11. Juli 2024 gemäss einem Bericht des “Tagblatts” ein 34jähriger Schweizer im Treppenhaus eines Wohnblocks unvermittelt eine 29jährige hochschwangere Frau an und attackierte im Weiteren deren Vater, welcher ihr zur Hilfe eilte, fügte ihm schwere Verletzungen zu, ebenso wie einer 31jährigen anderen Mieterin und deren drei Monate altem Baby. In seiner Wohnung wurden hernach eine ausgeschüttete brennbare Flüssigkeit sowie Gas festgestellt. “Es gibt immer mehr Menschen”, so ein Sprecher der Kantonspolizei, “die das Potenzial aufweisen, aggressiv zu werden oder sich selbst zu gefährden – die Schwere der Taten hängt sehr davon ab, wie gut oder wie schlecht solche Menschen in familiäre Strukturen eingebunden sind.”
Alles scheint darauf hinzudeuten, dass die Idealvorstellung der harmonischen Kleinfamilie mehr und mehr nur noch eine Illusion und ein Traum aus früheren Zeiten ist. Während sich viele immer noch trotz aller damit verbundener Belastungen an dieses Modell festklammern, haben es viele andere längst aufgegeben, sind aber infolge fehlender Alternativen der Gefahr von sozialer Isolation und aller damit verbundener Gefahren ausgesetzt.
Höchste Zeit, um über Alternativen zur traditionellen Kleinfamilie nachzudenken…
Und damit sind wir wieder bei jenen 17 Menschen, deren aktuelle Lebenssituationen ich am Anfang des Artikels beschrieben hatte. Und wir sind wieder bei Opa Wuzz. Seit er eines Tages einen Artikel gelesen hatte, in dem die Frage aufgeworfen wurde, ob nicht Grossfamilien eine sinnvolle Alternative zur Kleinfamilie sein könnten, liess ihn diese Frage nicht mehr los. Und je länger er darüber nachdachte, umso mehr Begeisterung stieg in ihm auf. Natürlich konnte es nicht die Rückkehr zur klassischen Grossfamilie früherer Zeiten sein, die wachsende Mobilität hatte schon längst über viel zu lange Zeit alle diese familiären Bindungen und Strukturen früherer Zeiten aufgelöst, das wusste er, dessen Kinder und Enkelkinder nach Deutschland und Australien ausgewandert waren, selber ja am besten. Aber man kann sich eine Grossfamilie ja auch anders denken, moderner und zur heutigen Zeit passend. Die Mitglieder einer “Grossfamilie” müssen ja nicht zwingend miteinander verwandt sein. Opa Wuzz kam ins Schwärmen: Eigentlich sind wir Menschen ja alle irgendwie miteinander verwandt, dachte er. Und irgendwie sind wir doch auch alle miteinander und füreinander verantwortlich. Und eigentlich könnten wir doch mit den Ressourcen, über die wir verfügen, viel sozialer und gemeinschaftlicher umgehen als einfach in der plumpen und egoistischen Art und Weise, dass jeder nur an sich selber oder höchstens an seine eigene kleine Familie denkt.
Und dann, eines Tages, sagte sich Opa Wuzz: Das machen wir. Er kannte sie alle schon, mehr oder weniger gut, einige auch nur ganz flüchtig, die meisten lebten in seinem eigenen Quartier oder nur unweit davon entfernt: Karin, Monika, Heinz und ihre drei Kinder, Conchita und Ruedi, Amir, Andrea und ihren dreijährigen Sohn, Anna und Roberto, Edith, Herbert und die 16jährige Amanda. Sie verstanden zunächst nicht ganz, was er meinte. Sie konnten es sich kaum vorstellen. Doch Opa Wuzz liess nicht locker: Ich weiss ja nicht, ob es funktioniert, sagte er, aber wir könnten es doch mindestens ausprobieren. Verlieren können wir nichts, höchstens etwas gewinnen.
Und so entstand aus diesen 17 Menschen die erste moderne “Grossfamilie”. Ein Jahr später war für sie die Welt eine ganz andere geworden. Und niemand, wirklich niemand von ihnen wollte wieder zurück zu der Zeit, als sie alle noch voneinander getrennt waren. Es ist Herbst im Jahre 2027. Lasst uns schauen, was passiert ist…
Da Monika und Heinz als Einzige der “Grossfamilie” – ich nennen sie im Folgenden einfach “Familie” – ein geräumiges Einfamilienhaus mit einem schönen Garten besitzen, ist dieses zu einer Art Lebensmittelpunkt für die ganze Familie geworden. Alle haben ihre bisherigen Wohnungen behalten, verbringen aber stets einen kleineren oder grösseren Teil des Tages im Haus und im Garten von Monika und Heinz, wobei es freilich auch Tage gibt, die Einzelne für sich alleine verbringen oder an denen sie anderweitigen Verpflichtungen oder Aktivitäten nachgehen. Anna kämpft zwar immer noch gegen ihre Alkoholabhängigkeit, hat aber jetzt eine gewisse Tagesstruktur, geht sie doch jeden Morgen für die ganze Familie einkaufen, zudem kümmert sie sich um die Katze von Monika und Heinz, was alleine schon viel Licht in ihr Leben gebracht hat, war es doch ein gewaltiger Schock für sie gewesen, als ihre eigene Katze, ihre eigentliche Lebenspartnerin, vor zwei Jahren gestorben war, nachdem sie 16 Jahre lang zusammen gelebt hatten. Amir hat im Haus von Monika und Heinz ein eigenes Zimmer bekommen, es war das Gästezimmer, das kaum je gebraucht worden war. Frei und selbstbestimmt kann er jetzt in ein für ihn ganz neues gesellschaftliches Umfeld hineinwachsen, mitbeteiligt am gewöhnlichen Alltag seiner neuen Heimat, in einem Umfeld, von dem er sich getragen, willkommen und geliebt fühlt. Conchita, die leidenschaftliche Köchin und Familienfrau aus Mexiko, ihr könnt es euch vorstellen, ist so etwas wie die Seele oder die Mutter der Familie. Sie kocht mittags und abends für alle in der grossen, modernen Küche von Monika und Heinz, und alle essen fast immer gemeinsam im geräumigen Esszimmer, im Wintergarten oder in der schattigen Pergola, wenn es Sommer ist – das sind die Zeiten, wo meistens alle 17 beisammen sind und auch alles ausgetauscht und besprochen wird, was gemeinsame Pläne oder Aufgaben betrifft. Doch Conchita ist nicht nur die Köchin, sie ist einfach die, die immer da ist und immer Zeit hat – jetzt ist sie wieder voll und ganz, mit Leib und Seele, die Familienfrau, die sie immer schon sein wollte, und die Sonne in ihrem Herzen strahlt wieder in voller Kraft wie früher. Die Kinder von Monika und Heinz brauchen weder Spielgruppe noch Kita, denn immer, wenn sie nachhause kommen, ist da jemand, der auf sie wartet, mindestens Conchita, meistens auch Roberto und fast immer Opa Wuzz, der schon wieder, wie in früheren Zeiten, mit den Kindern auf dem Boden herumkriecht oder ihnen, mindestens einmal pro Woche, eines jener Kasperletheaterstücke vorspielt, die er schon vor 30 Jahren seinen eigenen Kindern vorgespielt hatte – das sind dann die Momente, wo die Familie manchmal auch noch ein bisschen grösser wird, weil schon mal zusätzlich noch das eine oder andere Nachbarskind eintrudelt…
Auch Andrea muss sich nicht mehr damit herumschlagen, wer sich um Leon kümmert, wenn sie arbeiten geht, auch das mühsame Suchen nach einem anderen Platz für die Zeit, wenn ihre Eltern in die Ferien verreisten, ist endlich vorbei, bei Conchita, Roberto und Opa Wuzz ist ihr Leon in den besten Händen – dass es ihr schon am Morgen immer schlecht war, dass sie den ganzen Tag nur auf den Abend wartete, um sich dann total erschöpft ins Bett zu werfen, ohne jede Energie für irgendetwas anderes, all das ist nur noch Erinnerung an die schlimmste Zeit ihres Lebens, neulich hat sie zum ersten Mal seit Jahren sogar wieder ein Buch in die Hand genommen und angefangen zu lesen. Und erst Roberto! Da er jetzt nicht mehr ganz alleine seine Frau betreuen muss, sondern sich zusammen mit ihm Karin, Monika, Conchita, Amir, Herbert und manchmal sogar Amanda diese Aufgabe teilen, kann er ohne schlechtes Gewissen am Abend wieder mit seinen Kollegen ein Bier trinken gehen oder eine Runde Boccia spielen. Selbst die Ehekrise von Edith und Herbert hat längst nicht mehr die Dramatik von früher. Die beiden sind nicht mehr gezwungen, sich ganz alleine an einem kleinen Tisch gegenüberzusitzen, bloss darauf wartend, bis wieder das erste böse Wort fällt – jetzt sitzen sie am grossen Tisch mit vielen anderen, mal mit diesem, mal mit jener scherzend und plaudernd, meistens nicht einmal nebeneinander sitzend, und so hat die Möglichkeit, sich bei Belieben jederzeit gegenseitig aus dem Weg gehen zu können, kurioserweise dazu geführt, dass sie sich sogar wieder ein bisschen näher gekommen sind. Und selbst Amanda verkriecht sich nicht mehr den ganzen Tag in ihrem Zimmer, seit sie Conchita ihr ganzes Herz ausgeschüttet und ihr all das anvertraut hat, was sie ihren eigenen Eltern niemals zu sagen getraut hätte – sie trägt wieder farbige Kleider, sie liebt das Essen und die von Conchita zu jeder Tages- und Nachtzeit zubereiteten Drinks über alles, hat wieder zugenommen und seit ein paar Wochen gibt sie sogar Amir jeden Tag eine Deutschstunde, was ihr so grossen Spass macht, dass sie schon davon träumt, später einmal als Lehrerin zu arbeiten.
Auch die Aufgabenteilung und dass alle das machen, was ihnen am meisten Freude macht und sie am besten können, ist für alle wunderbar entlastend. Wenn es um Formulare, Steuererklärungen oder andere schriftliche Dinge geht, ist Opa Wuzz zur Stelle. Heinz ruft man immer, wenn der Staubsauger nicht mehr funktioniert, ein Siphon verstopft ist oder ein neuer Kasten fachgerecht zusammengebaut werden muss. Bei Computerproblemen ist Herbert derjenige, der auch dann immer noch weiterweiss, wenn alle anderen schon längst am Anschlag sind. Und bei Liebeskummer, Prüfungsangst oder einem Konflikt mit dem Chef werden zentnerschwere Probleme plötzlich ganz federleicht, wenn man von Conchita an der Hand genommen und auf jene Wolke mitgenommen wird, von der sie immer wieder erzählt und von wo aus auch die scheinbar grössten und schwersten Felsen so aussehen wie ein paar kleine Kieselsteine.
Und das ist noch längst nicht alles. Zum Beispiel hat die ganze Familie gemeinsam ein Abonnement der Lokalzeitung. Ohne viel zu bezahlen, haben somit dennoch alle den gleichen Zugang zu den wichtigsten Informationen und sind jederzeit darüber orientiert, was in der Stadt so läuft, oft wird auch über das eine oder andere Thema eifrig diskutiert, unterschiedliche Meinungen werden ausgetauscht. Selbst in ökologischer Hinsicht gibt es nur Vorteile: Um die Mahlzeiten für die 17 Personen zuzubereiten, braucht es jetzt nicht mehr vier oder fünf, sondern nur noch eine einzige Küche. Auch die Zahl der Waschmaschinen, Tiefkühlgeräte, Putzmaterial und Werkzeuge hat sich massiv reduziert. Eine Bohrmaschine, um nur ein Beispiel zu nennen, genügt doch vollauf für 17 Personen – was für ein Luxus und was für eine Verschwendung, wenn es in jedem noch so kleinen Haushalt solche Geräte gibt, die man während weit über 99 Prozent der Zeit gar nie braucht. Auch benötigen 17 Personen nicht vier, fünf oder noch mehr Autos, ein einziges müsste eigentlich genügen.
Unlängst hat Opa Wuzz sogar die Idee einer gemeinsamen Kasse in die Runde geworfen, die von allen, die mehr verdienen, als sie zum Leben brauchen, gefüttert werden könnte, und aus der alle anderen sich dann und wann einen kleinen “Luxus” leisten könnten, einen Ausflug, einen Restaurant- oder Theaterbesuch. Noch radikaler wäre die Idee, alle von den einzelnen Familienmitgliedern erzielten Erwerbseinkommen zusammenzunehmen und unter alle gleichmässig zu verteilen. Doch wahrscheinlich ist, obwohl es tausend gute Gründe dafür gäbe, die Zeit dafür noch nicht reif…
Grossfamilien wären ein Segen vor allem auch für Kinder und Jugendliche. Gewiss kann auch eine “gesunde”, “gut funktionierende” Kleinfamilie Kindern einen guten, fruchtbaren Boden für ihr späteres Leben bieten. Die Gefahr ist aber gross, dass die Kinder – vor allem, wenn es sich um Einzelkinder handelt – mehr oder weniger schutzlos der Willkür ihrer Eltern ausgeliefert sind. “Raya”, so berichtete das “St. Galler Tagblatt” am 5. Juni 2024 über eine tatsächlich dokumentierte, überaus tragische Lebensgeschichte eines betroffenen Kindes, “musste mittags Punkt 12 Uhr zuhause sein. Stiess sie eine Minute zu spät die Haustüre auf, schrie der Vater sie an und warf mit Essen um sich. Doch auch wenn sie pünktlich erschien, blieb sie stets auf der Hut. Wie ist Vaters Stimmung? Wie gelingt es, ihn nicht zu reizen? Denn es flog nicht nur das Essen durch die Luft, auch körperlich und seelisch war er gewalttätig, er trank, konsumierte Drogen, hatte Psychosen und Schizophrenie.” Raya ist inzwischen 39 Jahre alt. Heute weiss sie, weshalb sie als Kind eine extreme innere Anspannung verspürte, häufig an Migräne oder Bauchschmerzen litt und zeitweise feste Nahrung verweigerte. Sie weiss auch, weshalb sie selbst jetzt noch, als Erwachsene, nur mit Medikamenten ihre Ängste kontrollieren kann. Auch Valy war als Kind mit enormen psychischen Belastungen ganz auf sich alleine gestellt. Der Mutter fehlte jegliche Energie, sich um die Tochter zu kümmern. Gleichzeitig lebten sie derart in einem Mikrokosmos, dass sich die Ängste der Mutter auf das Mädchen übertrugen. Etwa, als sich die Mutter mit Panikattacken in der abgedunkelten Wohnung verschanzte: Valy musste damals jeden Abend kontrollieren, ob sich niemand in der Wohnung versteckt hielt und ob alle Storen gut verschlossen waren, plötzlich erlebte auch sie die ganze Welt als eine einzige allgegenwärtige Bedrohung. Und Raya und Valy sind nicht die Einzigen: Zurzeit gibt es in der Schweiz fast zwei Millionen Menschen, die als Kind unter der psychischen Erkrankung eines Familienmitglieds dermassen gelitten haben, dass sie oft lebenslang bleibende Schäden davontragen. Viele von ihnen müssen auch schon in jüngstem Alter Aufgaben im Haushalt und bei der Betreuung von Geschwistern übernehmen, zu denen ihre Eltern nicht imstande sind, was sich meistens auch auf die schulischen Leistungen auswirkt, bleibt ihnen doch kaum Zeit, um ihre Hausaufgaben zu erledigen, oder sind sie am Morgen so müde, dass sie zu spät oder gar nicht zur Schule gehen.
Während Raya, Valy und unzählige andere das alles still ertragen und nicht selten sogar die Schuld für all die Unstimmigkeiten und Qualen bei sich selber suchen, reagieren andere Kinder und Jugendliche auf solche Situationen dadurch, dass sie von zuhause ausreissen. Jahr für Jahr sind es schweizweit rund 25’000 Kinder und Jugendliche, die ihr Zuhause als ein so unaushaltbares Gefängnis empfinden, dass sie keinen anderen Ausweg mehr sehen, als die Flucht zu ergreifen. Viele von ihnen streunen tage- und nächtelang herum, übernachten selbst mitten im Winter irgendwo unter freiem Himmel, nicht wenige von ihnen geraten in die Fänge von Menschenhändlern, werden sexuell ausgebeutet oder verschwinden für immer spurlos – ein nahezu völlig tabuisiertes Thema ausgerechnet in einem so reichen, “fortschrittlichen” Land wie der Schweiz.
Kinder, die der Willkür ihrer Eltern schutzlos ausgeliefert sind, Kinder, die immer schwerere, von ihren eigenen Eltern aufgebürdete Rucksäcke weitertragen müssen, Kinder, die von zuhause ausreissen und von denen nicht wenige für immer spurlos verschwinden – dies alles wird in einer Grossfamilie mit der von allen gegenseitig ausgeübten Aufmerksamkeit und Unterstützung undenkbar sein, nicht nur was Kinder und Jugendliche betrifft, sondern ganz allgemein häusliche Gewalt und Instrumentalisierung von Kindern durch Probleme, Belastungen und übertriebene Erwartungen seitens ihrer Eltern.
Die alleinige Fokussierung auf die Kleinfamilie hat auch zur Folge, dass bei grösseren Krisen oder Todesfällen das gesamte bisherige Lebensgerüst, an dem sich das Kind festgehalten hat, von einem Tag auf den andern zusammenbricht. Meistens werden solche Kinder in eine Pflegefamilie versetzt und müssen sich ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem sie den ganzen bisherigen Boden unter ihren Füssen verloren haben, in eine völlig neue und ihnen total fremde Umgebung einleben und sind auch dann nicht davor gefeit, dass auch die neuen Bezugspersonen unzimperlich oder bevormundend mit ihnen umgehen. Auch das ist in einer Grossfamilie undenkbar. Wenn eine der 17 Bezugspersonen wegbricht, sind immer noch 16 andere da, welche das bisherige Netz an Sicherheit und Geborgenheit aufrechtzuerhalten vermögen, 16 Menschen, zu denen das Kind bereits eine manchmal vielleicht sogar engere Beziehung aufgebaut haben mag als selbst zu den eigenen Eltern. Auch haben die Kinder in der Grossfamilie nicht nur eines oder zwei Vorbilder, sondern viele verschiedene. Sie können nicht nur von einer einzigen oder von zwei Personen etwas lernen, sondern auch von vielen anderen, von jeder etwas, was für ihre Entwicklung wertvoll sein kann. Sie sind nicht einem einzigen Erziehungsstil ausgeliefert, sondern erleben ganz unterschiedliche Verhaltensweisen von Erwachsenen gegenüber Kindern, die sie kritisch und selbstbestimmt miteinander vergleichen und werten können und die zugleich ein kleines Abbild sind einer vielfältigen demokratischen Gesellschaft, in der es nicht nur Richtig und Falsch gibt, sondern unendlich viel dazwischen. So wird die Grossfamilie zu einer eigentlichen Lerngemeinschaft, in der nicht nur die Jungen von den Alten etwas lernen können, sondern auch die Alten von den Jungen und alle miteinander und voneinander.
Umgekehrt liegt in der Grossfamilie auch nicht mehr die ganze Last der Betreuung und der Begleitung der Kinder auf bloss vier oder zwei Schultern. Während sich in der Kleinfamilie Papa und Mama oder sogar ausschliesslich die Mama von früh bis spät, Tag und Nacht, buchstäblich um alles kümmern muss und für alles verantwortlich ist und sich, wenn es trotz allem nicht wie gewünscht herauskommt, als totale Versagerin fühlt, ist dies alles in der Grossfamilie auf viele verschiedene Schultern verteilt, alle tragen Verantwortung für alle und niemand muss es als persönliches Versagen empfinden, wenn dabei, was ja völlig normal ist, vorübergehend auch Schwierigkeiten und Krisen auftreten, die man dann gemeinsam viel besser meistern kann, als wenn man ganz alleine auf sich gestellt und dabei oft hilflos überfordert ist. Wie ein bekanntes afrikanisches Sprichwort besagt, braucht es “ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen”. Oder zumindest eine Grossfamilie, wie auch der bekannte Neurobiologe Gerald Hüther in einer Publikation des Humanistischen Verbands Deutschlands vom 1. Oktober 2021 ausführte: “Erziehung muss nicht eine Individualangelegenheit der Eltern sein. Eingebettet in eine grössere soziale Gemeinschaft bringt sie grosse Chancen für eine ganzheitliche Entwicklung des Kindes. Denn Menschen sind zutiefst soziale Wesen, die bereits im Mutterleib als solche entstehen – sichtbar an physiologischen Mustern, die auf Verbindung mit anderen Menschen abzielen.”
Grossfamilien hätten zweifellos auch eine präventive Wirkung gegen die Gefahr von politischem oder religiösem Extremismus und würden wohl wesentlich dazu beitragen, dass es bei “Randgruppen” nicht zu einer Entwicklung in Richtung Gewalttätigkeit käme. Würde Amir auch noch im Alter von 15 oder 16 Jahren in einem Heim oder an einem anderen, von der übrigen Gesellschaft abgeschotteten Raum leben, weiterhin mit allen möglichen und unmöglichen Botschaften, Aufrufen und Ideologien im Internet und den sozialen Medien sich selber überlassen bleiben, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass er eines Tages einer jener “delinquierenden ausländischen Jugendlichen” sein könnte, die landauf und landab in den Medien und in den Kampagnen gewisser politischer Parteien Schlagzeilen machen, wohl unvergleichlich viel grösser, als wenn er in einer sozialen Gemeinschaft gross werden kann, in der er sich verstanden, geborgen und geliebt fühlt und täglich von anderen Menschen Wertschätzung erfährt.
Wahrscheinlich müsste man früher oder später auch den Begriff der “Liebe” ganz anders definieren, als dies heute der Fall ist. Liebe ist doch nicht nur eine – in aller Regel mit Sexualität in Verbindung gebrachte – Paarbeziehung oder allenfalls noch die “Affenliebe” von Eltern, die ihre Kinder verhätscheln und ihnen jeden Wunsch erfüllen. Liebe ist doch auch, wenn Amanda Amir Deutschstunden gibt. Liebe ist doch auch, wenn Anna oder Herbert Roberto einen Teil seiner Betreuungsarbeit für Anna abnehmen, damit er am Wochenende seine Freunde treffen kann. Liebe ist doch auch, wenn Karin jetzt wieder eine Katze an ihre Brust drücken und sie liebkosen kann. Liebe ist doch auch, wenn man möglichst umweltbewusst zu leben versucht und einem die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen nicht egal sind. Liebe ist doch alles, was sich Menschen gegenseitig an Aufmerksamkeit, Zuneigung, Anteilnahme und Mitgefühl schenken können, das, was wir auch, seit Jesus diese wunderbare Botschaft in die Welt gebracht hat, als Nächstenliebe bezeichnen und zutiefst auch mit innerer Verbundenheit, Verantwortungsgefühl und Solidarität zu tun hat.
Die neue Grossfamilie wäre so etwas wie der erste Kreis, in den ein Mensch hineingeboren wird und in dem er sich bedingungslos willkommen fühlt. Ein Ort der Geborgenheit und der Gewissheit, dass er auch dann nicht zerbrechen wird, wenn einzelne Teile von ihm in Gefahr sind. Den zweiten Kreis könnten zum Beispiel Quartiervereine bilden, grössere soziale Gemeinschaften, in denen aber gleichermassen das Miteinander und das gegenseitige Verantwortungsgefühl im Vordergrund stehen. Der dritte Kreis, das wäre dann die Kommune, die auf den gleichen Grundsätzen weiterbauen müsste. In der heutigen kapitalistischen Leistungs-, Wettbewerbs- und Konkurrenzgesellschaft, in der jeder gezwungen ist, für sich den grösstmöglichen Anteil an Ansehen und materiellem Erfolg zu gewinnen, und so die Mitmenschen vor allem als Konkurrenten im Kampf um einen zunehmend kleiner werdenden Kuchen wahrgenommen werden, fehlt der erste Kreis gänzlich und auch der zweite ist, selbst wenn es ihn da und dort noch gibt, vom Aussterben bedroht. Die Menschen brauchen immer mehr Zeit und Energie für den individuellen Existenzkampf, so dass immer weniger Zeit und Energie für das Gemeinschaftliche, für das Miteinander, für die Solidarität mit Schwächeren übrig bleibt. Solange aber der erste und zweite Kreis fehlen, können auch die weiteren, darüber gestülpten Kreise nicht wirklich funktionieren. Die Menschen, die derart umfassend von ihrem individuellen Kampf für den Aufstieg und gegen den Abstieg innerhalb der herrschenden Klassengesellschaft absorbiert sind, haben kaum noch Ressourcen, sich um das Gemeinwohl innerhalb grösserer Bevölkerungssegmente zu kümmern, alles “Politische” wird zunehmend ausgeklammert und an den Rand gedrängt, was sich nur schon an der geringen Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen zeigt. Gleichzeitig führen auch Einsamkeit und Isolation und das Gefühl der zu kurz Gekommenen, zunehmend an den Rand gedrängt und nicht mehr als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft wahrgenommen zu werden, dazu, sich kaum mehr auf etwas einzulassen, was auch nur im Entferntesten mit “Politik” zu tun hat, denn alle damit verbundenen Erwartungen wurden schon viel zu oft enttäuscht. Dies alles aber ist nichts anderes als eine zunehmende, scheibchenweise Erosion der Demokratie bis in letzter Konsequenz hin zu ihrem völligen Verschwinden.
Unsere Demokratie ist nicht in erster Linie durch irgendwelche ferne Autokraten bedroht, wie so oft behauptet wird, und was dann zynischerweise noch als Begründung für militärische Aufrüstung herhalten muss und damit für die Reduktion öffentlicher Gelder, die man ausgerechnet für soziale Sicherheit und damit für die Aufrechterhaltung einer demokratischen Ordnung dringendst bräuchte. Unvergleichlich in viel höherem Ausmass als durch ferne Autokraten ist unsere Demokratie durch durch unsere eigene Ideologie des kapitalistischen Konkurrenzprinzips bedroht, das auf der Zerschlagung all dessen beruht, was mit gegenseitiger Solidarität zu tun hat, und die Menschen einzig und allein auf den Kampf ums individualistische Überleben reduziert, genau so, wie es die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1987 in einem Interview sagte: “So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht, es gibt nur Individuen.” Diese auch als “neoliberal” bezeichnete Geisteshaltung, die nebst Thatcher vor allem auch von US-Präsident Ronald Reagan gepredigt wurde, stiess damals noch bei vielen Menschen auf erbitterte Kritik, heute ist sie sozusagen der “Normalzustand”, an den wir uns weitgehend gewöhnt haben und zu dem weitherum keine Alternative mehr in Sicht zu sein scheint.
Diese bloss auf den individuellen Überlebenskampf reduzierte Sicht, aufbauend auf jahrhundertelang zementierter Lügen wie jener, jeder sei “seines eigenen Glückes Schmied”, hat auch dazu geführt, dass die gegenseitige Anteilnahme, das gegenseitige Verantwortungsgefühl und das Interesse für gesellschaftliche Zusammenhänge nicht nur gegenüber den Nachbarn und den Mitbürgerinnen und Mitbürgern im eigenen Dorf und in der eigenen Stadt immer mehr verloren geht, sondern erst recht gegenüber allem, was noch weiter entfernt ist. Wurden noch in den Sechzigerjahren die wirtschaftlichen Ausbeutungsmechanismen zwischen der sogenannten “Ersten” und der sogenannten “Dritten” Welt öffentlich breit diskutiert, so werden die Länder des Südens heute von den meisten überprivilegierten Menschen des Nordens bestenfalls noch als möglichst billige und zugleich höchst attraktive Ziele für die nächste Ferienreise wahrgenommen – die Saat von Thatcher, Reagan und Ihresgleichen ist voll aufgegangen: Alle schwärmen von der Schönheit indischer Kunst- und Bauwerke, von der Farbenvielfalt auf den Gemüsemärkten in Kalkutta und Bangalore, und schicken Tausende Fotos all dieser Schönheiten rund um den Globus, aber niemand spricht davon, dass es im gleichen Land alleinerziehende Mütter gibt, die früh am Morgen ihrem Kind ein so starkes Schlafmittel verabreichen, dass es bis am Abend nicht mehr aufwacht, damit die Mutter zehn Stunden lang in mörderischer Hitze auf einer Baustelle arbeiten kann, nur damit sie und ihr Kind nicht verhungern müssen – was nichts anderes heisst, als dass es einer alleinerziehenden Mutter in der Schweiz, in Kanada oder in Mexiko im Grunde genau gleich geht wie einer alleinerziehenden Mutter in Indien, Kenia oder Bangladesch und nur die weltweite Übernahme gegenseitiger Verantwortung, das Wahrnehmen der weltweiten sozialen, wirtschaftlichen Zusammenhänge und die Solidarität einer möglichst grossen Zahl Privilegierter mit den Unterprivilegierten dauerhaft daran etwas zu ändern vermöchte.
Es ist nur ein kleiner Schritt, dachte sich Opa Wuzz eines Abends, als er wieder einmal sein Tagebuch zur Hand nahm. Aber es könnte vielleicht der Anfang von etwas Grösserem sein. Irgendwo muss es ja beginnen. Und wieder tropfte eine Träne in das Tagebuch, aber dieses Mal war es eine Träne der Freude, und erstaunlicherweise war auch seine Schrift längst nicht mehr so wacklig wie noch drei Jahre zuvor. Als wäre er wieder ein bisschen jünger geworden, seit er mit den kleinen Kindern in seiner Grossfamilie am Boden herumkriecht und mit ihnen all die wunderbaren Luftschlösser baut, die vielleicht eines Tages auf der Wolke von Conchita stehen werden oder im Herzen von Amir, wenn er irgendwann seine Zukunftsträume verwirklichen kann und vielleicht, wer weiss, eine eigene neue Grossfamilie gründen wird…
(Nachtrag am 11. September 2024: Michael Schulte-Markwort berichtet auf “FOCUS-Online” über die seelische Verwahrlosung der Kinder in deutschen Kitas. In Schweizer Kitas wird es vermutlich auch nicht grundsätzlich anders sein. Gäbe es nur noch Grossfamilien wie jene von Opa Wuzz, bräuchte es auch keine Kitas mehr. Schulte-Markwort schreibt: “300 Fachleute schlagen Alarm und warnen in einem offenen Brief vor den Folgen der Kitakrise für Kinder. Die Erzieherinnen müssen viel zu viele Kinder betreuen, was sehenden Auges für die Fachkräfte bedeutet, mitzuerleben, wie schlecht die Kinder selbst bei grössten Bemühungen versorgt sind. Untersuchungen haben gezeigt, dass es mindestens 20 Prozent der kleinen Kinder nicht gut geht. Das ist eine Form der institutionellen Verwahrlosung. Gerade die kleinen Kinder, die noch nicht in der Lage sind, über ihre seelischen Zustände zu sprechen, sind darauf angewiesen, dass sie liebevoll und umfassend gesehen und versorgt sind. Das ist aber nicht der Fall und führt zu psychischen Veränderungen in Form von Rückzug und Introversion und mutet mindestens an wie Vorformen depressiver Symptome… Auf der Seite der Fachkräfte führt zum einen das Erleben der mangelhaften Versorgung, aber auch der Engpass als solches zu psychischen Belastungen, die schnell mit Symptomen wie Erschöpfung oder auch psychosomatischen Krankheitszeichen einhergehen. Der dann entstehende Krankenstand führt zu einem Kreislauf, der die Ausfälle und die Erschöpfung verstärkt und zu immer ausgeprägteren Gefühlen der Sinnlosigkeit führen… Die Familien schliesslich sind immer wieder mit Ausfällen der Fachkräfte konfrontiert, die kompensiert werden müssen. Darüber hinaus müssen sie mit dem Gefühl leben, dass ihr Kind nicht gut versorgt ist und unter Umständen sehr leidet – ohne dass es dazu eine Alternative gibt. Insgesamt ein Kreislauf, der für die Schwächsten unserer Gesellschaft zu unzumutbaren Belastungen führt, die sie mit denen teilen, die sie versorgen wollen… Kinder reagieren immer auf die Psyche der sie umgebenden Menschen. Das ist keine Frage des Alters oder sprachlicher Fähigkeiten. Auch kleine Kinder erspüren immer, wie es zum Beispiel ihren Eltern geht, in welcher seelischen Verfassung sie sind – auch, wenn diese nicht darüber sprechen. Dasselbe gilt für die Fachkräfte in den Kitas. Wenn diese überfordert, erschöpft oder gar depressiv sind, dann erspüren die betreuten Kinder dies immer. Das führt entweder zu einer Übertragung dieser Belastung oder zu kindlichen Phantasien, dass sie selber zu belastend sein könnten für die Erzieherinnen. Damit verstärkt sich auf beiden Seiten die Belastung und unausweichliche Zirkel von psychischen Symptomen entstehen. Wenn die Erzieherinnen merken, wie schlecht es den Kindern geh, strengen sie sich noch mehr an, was die Belastung und Erschöpfung verstärkt, was dann wiederum die Belastung der Kinder erhöht. Ein Kreislauf ohne Aussicht auf Auflösung… Videoanalysen haben unter anderem gezeigt, dass 20 Prozent der Kinder in ihrer Mimik und Körpersprache signifikant ausdrucksloser als die anderen Kinder sind. Das erinnert an depressive Menschen, die hypomimisch werden, an Gesichtsausdruck verlieren und überhaupt weniger Energie und Ausdruck zeigen… Wir wissen aus anderen Untersuchungen an Kindern im Alter zwischen 4 und 8 Jahren, dass etwa 8 Prozent von ihnen die Kriterien für eine Depression erfüllt haben. Entgegen früherer Annahmen wissen wir heute, dass Depressionen auch im Kindes- und Jugendalter vorkommen, mit einer langsamen Zunahme mit dem Alter bis auf etwa 8 Prozent im Jugendalter… Je jünger die Kinder sind, desto weniger psychische Mechanismen haben sie, um mit Stressoren anders umzugehen, als sie aufzunehmen. Die Kleinen können nicht darüber sprechen, man kann ihnen keine Skills beibringen und auch alle anderen gängigen Strategien, auf die man professionell mit gestressten und/oder depressiven Menschen reagiert, können hier nicht zum Einsatz kommen. Da Kitakinder sich in der Regel über ihr psychisches Befinden noch nicht sprachlich ausdrücken können, sind sie darauf angewiesen, dass feinfühlige Eltern sich aufmerksam auf ihr Kind konzentrieren, um Signale wahrzunehmen. Eines der offensichtlicheren ist die Weigerung oder der anhaltende morgendliche Unwille des Kindes, in die Kita gebracht zu werden. Kein Arbeitnehmer würde lange an seinem Arbeitsplatz verweilen, wenn dieser mit morgendlichem Unwillen einhergeht. Komischerweise glauben viele Erwachsene, dass man dies den Kleinsten sehr wohl zumuten kann, weil sie sich dem elterlichen Willen am Ende unterordnen. Diese Unterordnung kann aber psychische Veränderungen nicht aufhalten… Weitere Symptome können körperliche Beschwerden wie Bauchschmerzen oder Appetitlosigkeit in der Kita sein. Die Umlenkung seelischer Impulse in körperliche Symptome sind im Kindesalter weit verbreitet. Ebenso können die Kinder mit (Ein-)Schlafstörungen oder Trennungsangst sowie einer erhöhten Weinerlichkeit auffallen… Natürlicherweise stehen die kindlichen Symptome manchmal den elterlichen Notwendigkeiten, zum Beispiel ihrer Arbeit pünktlich nachzugehen, im Wege. Das kann dazu führen, dass Eltern in ihrer Not die kindlichen Symptome nicht wahrnehmen oder bagatellisieren… Es gibt nach wie vor in unserer Gesellschaft die unausgesprochene Annahme, dass Kinder umso unwichtiger erscheinen, je jünger sie sind. Die Kleinsten werden nicht von Pädagoginnen der frühen Kindheit versorgt, sie sind in viel zu grossen Gruppen mit zu wenig Fachpersonal und dieser Trend setzt sich fort, indem Grundschullehrer weniger gelten als Gymnasiallehrer, Kinderärzte schlechter bezahlt werden als Erwachsenenmediziner und vieles andere mehr. Kinder haben keine Lobby, sie protestieren nicht, passen sich ungenügenden Umständen an und versuchen immer, es uns Erwachsenen recht zu machen. Im Umkehrschluss verwechseln wir diese Stille der Kinder mit Zufriedenheit. Immer wieder wird fürsorglichen Eltern Überfürsorglichkeit unterstellt – dahinter steckt die Annahme, dass Kinder sich von unreif zu reif, von unmündig zu mündig zu entwickeln haben und sie mit zu viel Aufmerksamkeit verwöhnt und lebensunfähig werden. Das Gegenteil ist der Fall!)