Grosse Unzufriedenheit vieler Beschäftigter mit ihrer Arbeitssituation und weshalb die Sehnsucht nach sinnerfüllter Tätigkeit nicht bloss ein schöner, unerfüllter Wunschtraum bleiben sollte…

 

Gemäss einer Umfrage des Beratungsunternehmens PwC ist nur die Hälfte aller Berufstätigen in der Schweiz mit ihrem Job zufrieden. Begründet wird dies mit dem Wunsch nach mehr Lohn und einer “erfüllenden Tätigkeit”. Und laut einer vom Institut LINK im Auftrag von JobCloud im August 2022 durchgeführten Umfrage sind es sogar nur 40 Prozent, welche ihren Job lieben. Arbeitnehmende, so das Fazit der Studie, strebten vor allem nach “persönlicher Entfaltung” und einer “sinnstiftenden Tätigkeit”, sie wünschten sich “mehr Autonomie” sowie “Sicherheit am Arbeitsplatz”; die “Liebe zum Beruf” bleibe oft auf der Strecke. “Wir wissen”, so Daniel Villa, CEO von JobCloud, “dass die Sinnhaftigkeit im Job zu grösserer Zufriedenheit in allen Bereichen führen kann. Wer einen Job findet, den er liebt, wird nicht mehr das Gefühl haben, arbeiten zu müssen.”

Es gibt wohl eine ganze Reihe von Gründen, die dazu führen können, dass viele Jobs unattraktiv sind und nicht jene “sinnstiftende und erfüllende Tätigkeit” erlauben, welche sich die meisten Menschen zu wünschen scheinen. Da bleibt eben die “Liebe zum Beruf”, die in allen Lebensbereichen zu grösserer Zufriedenheit führen könnte, nur allzu oft auf der Strecke. 

So ist es zum Beispiel die Monotonie mancher beruflichen Tätigkeit, die einer Sinnerfüllung im Wege stehen kann. Wenn die Fabrikarbeiterin acht oder neun Stunden täglich nichts anderes tut, als Kartonstücke zu Schachteln zusammenzufalten, oder wenn man von früh bis spät vor dem Bildschirm sitzt und nichts anderes tut, als eingegangene Zahlungen zu kontrollieren, dann handelt es sich hierbei wohl kaum um Tätigkeiten, die etwas mit “Liebe zum Beruf” zu tun haben könnten. Oder wenn man, wie das Zimmermädchen im Hotel oder der Paketbote, permanent unter einem immensen Zeitdruck arbeiten muss, dann versteht man den Wunsch der betroffenen Beschäftigten nach einem Jobwechsel nur allzu gut. Oder wenn man, wie die Malerin, der Koch oder der Landarbeiter auf dem Gemüsefeld, extremen körperlichen Belastungen ausgesetzt ist, dann liegt es nahe, sich nach einer weniger anstrengenden Arbeit umzusehen. Auch der Bauarbeiter, der bei Wind und Wetter, bei Hitze und Kälte schwerste körperliche Arbeit zu verrichten hat, träumt begreiflicherweise nicht selten von einer weniger strengen Arbeit in einem gut geheizten oder gut klimatisierten Raum. Auch der Wettbewerbsdruck am Arbeitsplatz, das permanente Vergleichen und Bewerten der Umsatzzahlen der einzelnen Angestellten, wie es zum Beispiel in der Verkaufsbranche üblich ist, trägt wohl kaum dazu bei, “Liebe zur Arbeit” möglich zu machen, dies umso weniger, als mit den Ranglisten an jedem Monatsende stets auch die Angst verbunden ist, den Arbeitsplatz möglicherweise zu verlieren. Schliesslich kann auch übergrosse Verantwortung, wie sie leitende Angestellte oder Chefs und Chefinnen von Unternehmen zu tragen haben, dazu führen, dass die tägliche Arbeit nicht so sehr als “sinnstiftende Tätigkeit”, sondern als oft geradezu unerträgliche Belastung wahrgenommen wird. Alle diese Faktoren bedeuten nicht nur individuelle Unzufriedenheit vieler Berufstätiger, sondern wirken sich letztlich auf alle Lebensbereiche aus, haben nicht zuletzt gravierende Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen und tragen möglicherweise auch wesentlich zu den steigenden Gesundheitskosten bei.

Schon der russische Schriftsteller Leo Tolstoi beschäftigte sich vor über 120 Jahren mit diesem Thema. Er schrieb: “Das einzige Mittel, um zu leben, ist Arbeit. Um arbeiten zu können, muss man die Arbeit lieben. Um die Arbeit lieben zu können, muss sie interessant sein.” Die Arbeit sollte man lieben können. Mit ihr verbringen wir die meiste Zeit unseres Lebens. Sie muss interessant sein, muss unserem Leben einen Sinn geben. Künstlerinnen und Künstler kommen diesem Idealbild wohl am nächsten, auch wenn sie nicht frei sind von ökonomischem Druck, aber wenigstens können sie während ihrer Arbeitszeit einer Tätigkeit nachgehen, bei der Selbstverwirklichung im besten Sinne möglich ist.

In einer idealen Welt würden aber nicht nur Künstlerinnen und Künstler, sondern alle Menschen ihre Arbeit lieben. Diese ideale Welt lässt sich freilich nicht von heute auf morgen verwirklichen, aber wir können uns ihr wenigstens schrittweise nähern. Ein erster Schritt könnte darin bestehen, all jene Jobs, die am wenigsten Freude machen, umzulagern in eine Art von “Gemeinschaftsdienst”. Konkret: Gearbeitet wird in sämtlichen Jobs nur noch vier Tage pro Woche, am fünften Tag leisten alle einen Arbeitseinsatz in einem jener “Knochenjobs”, die niemand erledigen würde, wenn er freiwillig wählen könnte, von der Kehrichtabfuhr über die Strassenreinigung bis zur Landarbeit, von Hilfsarbeiten in der Fabrik über das Saubermachen öffentlicher Toiletten bis zu Aufräumarbeiten im Wald. So könnten die am wenigsten begehrten Jobs eliminiert bzw. auf möglichst viele Schultern gleichmässig verteilt werden. Und vielleicht würde das sogar diese Jobs ein wenig erträglicher machen, wenn man sie nur während eines einzigen Tages pro Woche verrichten würde und niemand mehr gezwungen wäre, sie Tag für Tag bis zur Pensionierung auszuüben.

Der zweite Schritt würde in der Einführung eines generellen Mindestlohns bestehen, zum Beispiel im Umfang von 5000 Franken monatlich. Einen wesentlichen Faktor von beruflicher Unzufriedenheit bilden nämlich die gigantischen Lohnunterschiede, von denen ausgerechnet all jene betroffen sind, welche die unattraktivsten Tätigkeiten verrichten. Wie soll jemand mit seiner Berufssituation zufrieden sein, wenn er, obwohl er schwerste Arbeit verrichtet, mit ansehen muss, dass andere, die viel weniger strenge Arbeit verrichten, dennoch fünf oder zehn Mal mehr verdienen. Ein solcher Mindestlohn wäre nichts mehr als eine reine Selbstverständlichkeit und würde auf der simplen Idee beruhen, dass es für den Erfolg von Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes sämtliche berufliche Tätigkeiten braucht und dass deshalb auch alle an diesem Erfolg angemessen beteiligt werden müssen. 

Der dritte Schritt würde darin bestehen, dass die wöchentlichen Arbeitszeiten – ohne Abzug vom Lohn – in der Weise abgestuft würden, dass Jobs mit übermässiger psychischer oder körperlicher Belastung während einer geringeren Arbeitszeit ausgeübt werden müssten. Dies würde bedeuten, dass zum Beispiel ein Koch pro Woche einen Tag weniger arbeiten müsste und dennoch den vollen Lohn hätte. Dies würde freilich die Attraktivität der jeweiligen beruflichen Tätigkeiten nicht erhöhen, aber sie würde eine enorme Erleichterung mit sich bringen und den Betroffenen mehr Freizeit und Erholungsmöglichkeiten verschaffen.

Zu Recht stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie man das denn alles finanzieren könnte und woher das nötige Geld kommen sollte. Erstaunlicherweise stellt aber niemand die Frage, woher denn das viele Geld kommt, welches all jene Menschen verdienen, für die Monatslöhne von über 10’000 Franken ganz selbstverständlich sind, bis hin zu den Millionensalären der Spitzenverdiener. So lange in einem Land wie der Schweiz schon mehr Geld durch den Besitz von Aktien verdient wird als durch Arbeit, müsste eigentlich genügend Geld vorhanden sein, um anständige Mindestlöhne und innovative, menschenfreundliche Arbeitsmodelle zu verwirklichen. “Geld”, sagte der deutsche CDU-Politiker Heiner Geissler, “ist in Hülle und Fülle vorhanden wie Dreck, es ist nur am falschen Ort.” Was Geissler auf Deutschland bezog, gilt für die Schweiz erst recht.

Zurück zu den drei skizzierten Schritt auf dem Weg zu jener idealen Welt, in der nicht nur ein paar wenige, sondern alle Menschen in ihrer “sinnstiftende Erfüllung” fänden. Freilich würden diese drei Schritte noch längst nicht genügen. Denn das Grundproblem ist das kapitalistische Leistungsprinzip, wonach jeder und jede Einzelne, jedes Unternehmen und jede Branche permanent in einem gegenseitigen Konkurrenzkampf stehen, der jedes Unternehmen dazu zwingt, das Optimum aus den arbeitenden Menschen herauszuquetschen, auf Kosten ihrer Zufriedenheit, ihres Anspruchs auf lebenswerte Arbeitsbedingungen und ihrer Gesundheit. Nur eine Transformation vom Konkurrenzprinzip hin zum Prinzip der Gemeinschaft und der Kooperation kann Verhältnisse schaffen, in der “sinnstiftende” Arbeit vollumfänglich möglich wird. Eine solche Forderung mag hier und heute utopisch oder geradezu naiv klingen. Doch letztlich ist sie weit weniger naiv als die Idee, eine Arbeitswelt, in der immer mehr Menschen in ihrer täglichen Arbeit keinen Sinn und keine Erfüllung ihres Lebens mehr finden, sei eine erfolgversprechende Voraussetzung für eine gesunde und lebenswerte Zukunft für uns alle.