Griff in die sozialistische Mottenkiste?

«Die Jungsozialisten haben diese Woche die 99-Prozent-Initiative eingereicht. Deren simples Rezept lautet: Kapitaleinkommen sollen 1,5 mal so stark besteuert werden wie Arbeitseinkommen. Unter normalen Umständen haben derlei Begehren aus der sozialistischen Mottenkiste keine Chance. Doch die Umstände sind nicht mehr so normal wie auch schon. Die Lust auf politische Experimente steigt, irrationales Wahlverhalten nimmt zu.»

(Stefan Schmid, Tagblatt, 6. April 2019)

Was ist normal? Was ist verrückt? Was ist rational? Was ist irrational? In der «bürgerlichen» Schweiz scheint es normal zu sein, dass gewisse Menschen 300 Mal mehr verdienen als andere. Normal zu sein scheint, dass die Aktionäre der 30 grössten Schweizer Unternehmen Dividenden in der Höhe von 41 Milliarden Franken einstreichen, ohne dafür auch nur den kleinen Finger krumm gemacht zu haben. Normal zu sein scheint, dass in unzähligen Familien im reichsten Land der Welt fürs Essen pro Tag und Kopf nicht einmal sieben Franken zur Verfügung stehen. Die Aussagen von Stefan Schmid zeigen, dass man sich an das Verrückte und Absurde, wenn es nur genug lange zum gewöhnlichen Alltag gehört hat, mit der Zeit so sehr gewöhnen kann, dass das Normale zum Verrückten wird und umgekehrt. Das Ansinnen, ein ganz klein wenig mehr Gerechtigkeit zu schaffen, indem Kapitalgewinne höher besteuert werden sollen als Arbeitseinkommen, wird zum «Griff in die sozialistische Mottenkiste», zum politischen «Experiment», dem nur ein «irrationales» Wahlverhalten zum Durchbruch verhelfen könnte. Doch vielleicht leben wir ja schon bald in «normalen» Zeiten, in denen die heutigen Exzesse ungleicher Einkommens- und Vermögensverteilung als Relikte einer kapitalistischen «Mottenkiste» erscheinen werden, die in einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft keinen Platz mehr haben.