Gratispresse: Möglichst viele Klicks um jeden Preis – die Demokratie auf dünnem Eis

1,7 Millionen Menschen klicken heute täglich auf deutschsprachige News von “20 Minuten”. 1,2 Millionen lesen die Printausgabe. Es ist das leserstärkste Medium der Schweiz. Kein anderes Medium beeinflusst die Meinung der Menschen mehr als “20 Minuten”. Zu diesem Schluss kommt eine Studie, die das Bundesamt für Kommunikation in diesem Januar veröffentlicht hat. “20 Minuten”, so die Studie, sei die Nummer eins für Meinungsmacht, Fernsehen und Radio SRF1 folgten erst dahinter. Chefredaktor von “20 Minuten” ist Gaudenz Looser. Was er will, beschreibt eine Mitarbeiterin so: “Man muss loyal sein und Klicks machen. Klicks, Klicks, Klicks.” Wo andere Zeitungsredaktionen über Relevanz, Gewichtung und Erzählweise von Artikeln diskutieren, geht es bei “20 Minuten” einzig und allein darum, welche Story die meisten Klicks bekommt. So werden immer häufiger Meldungen publiziert, bei denen man mit dem Finger auf jemanden zeigt, der sich nicht richtig verhält – dies wird besonders gerne gelesen. Immer wieder zieht Looser die Schraube an: “Unsere Zahlen sind zu tief, wir brauchen einen aggressiveren Kurs und bessere Storys.” Und einen Monat später schreibt er: “Noch immer absolut grottige Zahlen. Es ist an der Zeit, dass jeder und jede Einzelne anfängt, seine Verantwortung für eine sofortige Verbesserung wahrzunehmen. Sonst wird es für uns alle ungemütlich.” So ungemütlich, dass immer mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre eigenen Artikel nicht mehr unterzeichnen, weil sie sich nicht mehr damit identifizieren können. Und so ungemütlich, dass immer mehr Journalistinnen und Journalisten die Redaktion verlassen, allein seit Anfang 2019 mehr zwanzig von insgesamt 80…

(NZZ am Sonntag, 15. März 2020)

So kommt es heraus, wenn man die Art und Weise, wie sich die Öffentlichkeit über Aktuelles und Hintergründe des Tagesgeschehens informiert, dem Freien Markt überlässt. Gnadenloser Konkurrenzkampf um Werbeeinnahmen. Steigerung der Leserzahlen um jeden Preis, mit allen Mitteln. Journalistinnen und Journalisten, die nicht einmal mehr ihre eigenen Artikel unterzeichnen, weil sie sich nicht mehr damit identifizieren können. Ein Weltbild, das nur noch aus Verbrechen, Promigeschichten, Schreckensmeldungen und Sex besteht und alle möglichen Hintergründe politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Zusammenhänge aussen vor lässt. Wir seien noch nie so umfassend informiert gewesen, wird oft behauptet. Genau so gut könnte man das Gegenteil behaupten: Wir sind noch nie mit so kurzlebigem und inhaltlosem Schnellfutter bedient worden, wie das heute bei vielen Medien, vor allem der Gratispresse, der Fall ist. Da begibt sich die Demokratie auf dünnes Eis. Denn Grundlage jeder Demokratie bilden möglichst umfassend informierte Bürgerinnen und Bürger. Eigentlich hat der Freie Markt in den Bereichen Bildung, Kultur und Information nichts verloren. Wenn Meldungen nur noch dann publiziert werden, wenn sich mit ihnen möglichst viel Geld verdienen lässt, dann hat das mit seriöser Berichterstattung nichts mehr zu tun. Eigentlich müssten Printmedien wie Radio und Fernsehen öffentlich-rechtliche Institutionen sein, deren gesellschaftspolitischer Auftrag über dem Ziel stehen muss, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld zu verdienen.