Gewerkschaften als Feigenblatt des Kapitalismus

Unter dem Motto «Mehr zum Leben» begeht der Schweizerische Gewerkschaftsbund SGB den diesjährigen Tag der Arbeit. «Zusammenstehen und gemeinsam kämpfen zahlt sich gerade bei den Löhnen direkt aus«, liest man im Aufruf des SGB zum 1. Mai: «In den letzten zwanzig Jahren ist es uns Gewerkschaften gelungen, die untersten Löhne deutlich anzuheben». Tatsächlich aber sind die Gehälter 2018 zwar um 0,5 Prozent gestiegen, doch die Teuerung hat diesen Zustupf in den meisten Branchen in eine reale Lohneinbusse verwandelt. Der durchschnittliche Reallohnverlust aller Arbeitnehmenden beträgt 0,4 Prozent, in einzelnen Branchen bis zu 1,4 Prozent! Die Schuld an dieser Entwicklung sehen die Gewerkschaften allein bei den Arbeitgebern und fordern diese auf, ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern am Aufschwung der Schweizer Wirtschaft, die sich weiterhin auf Expansionskurs befinde, angemessen teilhaben zu lassen.

(W&O, 1. Mai 2019)

Dass die Gewerkschaften mit ihren Lohnforderungen nicht erfolgreicher sind und die Arbeitnehmer und Arbeitnehmer nun schon im zweiten aufeinanderfolgenden Jahr eine Reallohneinbusse in Kauf nehmen müssen, ist leicht zu erklären. Löhne sind nichts anderes als das Resultat des betriebswirtschaftlichen Gewinnstrebens des einzelnen Unternehmens oder des einzelnen Betriebs. Schuld an den tiefen Löhnen sind deshalb nicht die «bösen» Arbeitgeber. Schuld ist das kapitalistische Wirtschaftssystems, das auf der Ausbeutung der arbeitenden Menschen beruht zum Zweck der endlosen Gewinnmaximierung. Dabei stehen die Betriebe und Unternehmen in einem permanenten gegenseitigen Konkurrenzkampf – kein Arbeitgeber könnte es sich zum Beispiel leisten, die Löhne der am wenigsten Verdienenden in einer Firma zu verdoppeln. Seine Firma wäre sogleich vom Feld des gegenseitigen Konkurrenzkampfs weggepustet. Deshalb können auch die Gewerkschaften keine Wunder bewirken – so lange sie nicht radikal die Überwindung des kapitalistischen Wirtschaftssystems anstreben. Vielleicht käme es sogar rascher zu fundamentalen Veränderungen, wenn es die Gewerkschaften in ihrer heutigen gemässigten Form als reines Feigenblatt das Kapitalismus gar nicht mehr gäbe und die Ohnmacht der am meisten Ausgebeuteten in eine echte Revolution zur grundlegenden Überwindung der heutigen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse umschlagen würde.