Der Zürcher SP-Gemeinderat Severin Meier möchte, wie der “Tagesanzeiger” am 12. Juli 2024 berichtet, mittels eines Postulats an den Stadtrat bewirken, dass “die Stadt Zürich angesichts der humanitären Situation in Gaza prüfen soll, wie schnellstmöglich ein substanzieller Betrag zugunsten des UNO-Palästinenserhilfswerks UNRWA getätigt werden könnte”. Denn die Lage in Gaza sei, so Meier, “verheerend”: 81 Prozent der Haushalte hätten keinen Zugang zu sauberem Wasser, 1,1 Millionen Menschen hätten ihre Essensvorräte aufgebraucht, eine Hungersnot stehe kurz bevor. Da der Bundesrat nur einen kleinen Teil der ursprünglich vorgesehenen Mittel von 20 Millionen Franken der UNWRA zur Verfügung stellen möchte, müssten nun halt, so Meier, die Städte einspringen, um Schlimmeres zu verhindern. Doch die Vertreterinnen und Vertreter der Mitte und der FDP halten dagegen: Beide Parteien sehen es ausschliesslich als Aufgabe des Bundes, Aussenpolitik zu betreiben. FDP-Gemeinderat Michael Schmid meinte sogar, die Stadt würde durch eine Zustimmung zu diesem Postulat ihre Kompetenzen überschreiten und die Aussenpolitik der Schweiz “übersteuern”. Der Stadtrat hat nun theoretisch zwei Jahre Zeit, um sich des Anliegens des Postulats anzunehmen. Meier und seine Mitunterzeichnenden hoffen indessen, dass der Stadtrat entgegen dieser Bedenken das Postulat aufgrund der Notlage in Gaza rascher umsetzen werde.
Blenden wir zurück: Ende Januar 2024 erhebt die israelische Regierung den Vorwurf, zwölf Mitarbeiter der UNRWA seien an den von der Hamas verübten Terrorattacken gegen israelische Zivilpersonen am 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen, ohne allerdings hierfür Beweise vorzulegen. Der Vorwurf wird unmittelbar von zahlreichen westlichen Regierungen, inklusive der Schweiz, übernommen und eine Streichung bzw. Kürzung der finanziellen Unterstützung der UNRWA beschlossen. Die bürgerliche Mehrheit in der Aussenpolitischen Kommission des schweizerischen Nationalrats entscheidet, dass vorerst kein Geld aus der Schweiz an die UNRWA fliessen soll. Man wolle zuerst mit “anderen Partnern” sprechen – gemeint ist unter anderem die rechte israelische Lobbyorganisation UN Watch, die schon seit längerem gegen die UNWRA agiert.
Am 28. März 2024 erklärt der Schweizer Diplomat Philippe Lazzarini, langjähriger Chef der UNRWA, in einem Interview mit der “Wochenzeitung”: “Was wir heute in Gaza beschreiben müssen, ist eine drohende Hungersnot, die absolut unfassbar ist. Mehr als eine Million Menschen befinden sich in einer katastrophalen, akuten Hungersituation. Wo bleibt die Weltempörung? Es ist, als ob wir der Tragödie, die sich vor unseren Augen abspielt, fast völlig unbeteiligt zusehen würden. Die Hungersnot könnte zwar noch abgewendet werden. Doch dazu müssten wir den Gazastreifen mit Nahrungsmitteln überschwemmen. Als ich letzte Woche nach Gaza einreisen wollte, wurde ich von den israelischen Behörden ohne jegliche Begründung daran gehindert. Die Anschuldigungen gegen die UNRWA-Mitarbeitenden haben sich bis heute nicht bewahrheitet. Es läuft eine unabhängige Untersuchung zu diesem Vorwurf, aber bislang haben weder Israel noch andere Staaten Beweise vorgelegt – obwohl sie dazu aufgerufen wurden. Ich bin überrascht, wie sehr Anschuldigungen und Behauptungen für bare Münze genommen werden.”
Am 24. April berichtet Radio SRF, Beweise für eine Verwicklung der UNWRA in die Terroranschläge vom 7. Oktober 2023 würden nach wie vor fehlen, doch dies hätte bislang keine Sinnesänderung bei den bürgerlichen Politikern bewirkt. Auch wird im Bericht darauf hingewiesen, dass Bundesrat Ignazio Cassis schon immer ein UNRWA-Kritiker gewesen sei. So hätte er auf einer Reise nach Jordanien im Jahre 2018 die UNRWA als Teil, nicht aber als Lösung des Nahostproblems bezeichnet, worauf es internationale Kritik gehagelt hätte.
Am 30. April weist der “Tagesanzeiger” auf die zentrale Figur hin, welche zur negativen Haltung der bürgerlichen Parteien gegenüber der UNRWA entscheidend beigetragen hätte. Es handelt sich um Hilel Neuer, einen kanadischen Anwalt, der alles daran setze, sein Publikum davon zu überzeugen, dass die UNRWA zerschlagen gehöre, weil sie von der radikalislamischen Hamas unterwandert sei. Von Genf aus steuert Neuer, der auch Direktor der rechten Nichtregierungsorganisation UN Watch ist, die Kampagne gegen das Hilfswerk. In der Budgetdebatte der letzten Wintersession hätte sich SVP-Nationalrat David Zuberbühler explizit auf Recherchen von UN Watch berufen, um für das Ende der UNRWA-Gelder zu weibeln.
Im gleichen “Tagesanzeiger”-Artikel vom 30. April lesen wir, dass Schweizer Entwicklungs- und Hilfsorganisationen zwei Petitionen mit über 45’000 Unterschriften an den Bundesrat eingereicht hätten, welche einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza und die Freigabe der UNRWA-Gelder forderten. Auch wird darauf hingewiesen, dass keine andere Organisation auch nur annähernd über jene Logistik verfüge, welche von der UNRWA über Jahrzehnte hinweg aufgebaut worden ist, um Hungerhilfe wie auch Bildungs- und Schulprogramme für die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen effizient umzusetzen. Auch in einem Untersuchungsbericht der UNO werde die Tätigkeit der UNRWA als “unersetzlich” und “unverzichtbar” beschrieben.
Am 1. Mai schreibt der “Tagesanzeiger”: “Das Ausmass der Verzweiflung in Gaza ist unvorstellbar. Nach Angaben der UNO sind mehr als eine Million Menschen vom Hungertod bedroht, und die medizinische Versorgung steht vor dem Kollaps. Ohne rasche Hilfslieferungen droht eine humanitäre Katastrophe unvorstellbaren Ausmasses.” Etwas überraschend habe nun die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats beschlossen, “der Organisation nicht komplett den Stecker zu ziehen”. Konkret verlangt sie, dass der Bundesrat einen Teil der Gelder für humanitäre Hilfe an die UNRWA freigeben soll. Allerdings dürften die Mittel nur für Nothilfe und humanitäre Hilfe eingesetzt werden, nicht aber für längerfristige Aufbauprojekte. Mittelfristig solle die UNRWA nicht mehr direkt finanziert werden.
Am 8. Mai beschliesst der Bundesrat, einen Beitrag von 10 Millionen – also die Hälfte der ursprünglich budgetierten 20 Millionen – an die UNRWA zu leisten. Der Beitrag ist auf reine Nothilfe zwischen Mai und Dezember 2024 beschränkt. Für die definitive Freigabe der Mittel brauche es aber noch die Zustimmung der Aussenpolitischen Kommissionen der beiden Räte, die etwa Mitte Juni zu erwarten sei.
In der “New York Times”, auf welche ein Artikel der “NZZ” vom 30. Mai Bezug nimmt, wirft UNRWA-Chef Lazzarini Israel vor, Zivilpersonen verfolgt, gefoltert und getötet zu haben, um falsche Zeugenaussagen zu erzwingen, mit denen die UNRWA belastet werden sollte. Israel, so Lazzarini, betreibe die systematische Zerschlagung der UNRWA. Seit dem 7. Oktober 2023 seien mindestens 192 UNRWA-Mitarbeiter in Gaza getötet und mehr als 170 UNRWA-Gebäude beschädigt oder zerstört worden, darunter auch Schulen. Etwa 450 Vertriebene hätten den Tod gefunden, als sie in Schulhäusern und anderen Einrichtungen der UNRWA Schutz gesucht hätten. Zudem würden israelische Streitkräfte Angestellte des Hilfswerks regelmässig schikanieren und jeden inhaftieren lassen, der sich über Folter und Misshandlungen in israelischem Gewahrsam beklage. Mittlerweile hätten die gezielten Aktionen gegen die UNRWA auch Ost-Jerusalem erreicht. Immer wieder komme es zu gewalttätigen Demonstrationen gegen das Hilfswerk. Unter dem Beifall eines Mitglieds des Bürgermeisteramts seien mindestens zwei Brandanschläge auf ein Gebäude der UNRWA verübt worden. Ungewöhnlich scharf attackiert Lazzarini auch den Bundesrat und das Parlament: In Bern habe “«”jede Menge Lobbying zugunsten Israels” stattgefunden. Bei der Entscheidung, der UNRWA die Gelder zu kürzen, habe sich die Politik einseitig von Israel beeinflussen lassen. Mit Neutralität habe das nichts mehr zu tun. Mit einer solchen Politik untergrabe man die Politik der Guten Dienste.
Man kann Lazzarini nur zustimmen. Gerade mal zwölf (!) von insgesamt 13’000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der UNRWA sollen in die Terrorattacken vom 7. Oktober 2023 verwickelt gewesen sein, und nicht einmal das konnte die israelische Regierung bis zur Stunde beweisen. Wären es mehr als zwölf gewesen, hätte die israelische Regierung wohl kaum davor zurückgeschreckt, eine auch weitaus höhere Zahl zu nennen. Zudem wurden neun dieser zwölf Angestellten unverzüglich entlassen und Untersuchungen gegen sie eingeleitet. Alles steht auf dermassen fadenscheinigen Behauptungen, dass es ausserordentlich schwerfällt, zu glauben, Israel ginge es auch nur im Entferntesten um so etwas wie “Gerechtigkeit”. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass es der Regierung Israels einzig und allein darum geht, die UNRWA als wichtigste Organisation für die humanitäre Unterstützung der palästinensischen Bevölkerung – mit Nahrungsmittelhilfe für 830’000 Menschen, Schulbildung für eine halbe Million Kinder und grundlegende medizinische Versorgung für 3,5 Millionen Menschen – systematisch zu schwächen oder gar zu zerstören. Dass die offizielle Schweiz dieses Spiel mit dem Leben und Tod von Millionen Menschen mitspielt und – im Gegensatz etwa zu Norwegen, Schweden, Spanien, Irland, Belgien, Österreich, Deutschland und Kanada – die Zahlungen an die UNRWA nach wie vor aussetzt, spottet jeglicher Vernunft, jeglichem Augenmass und jeglicher Solidarität mit Millionen von unschuldigen Menschen, die von unvorstellbarer Not betroffen sind. Und ausgerechnet die SVP, welche sich, wenn es ihr nicht in den Kram passt, stets mit Händen und Füssen gegen eine Einmischung des “Auslandes” in die “inneren Angelegenheiten” der Schweiz zur Wehr setzt, schenkt einem einzigen aus Kanada herbeigeflogenen und für seine engen Verbindungen zur israelischen Militärregierung bestens bekannten Anwalt mehr Gehör als einer von über 45’000 Schweizerinnen und Schweizern unterzeichneten Petition sowie ihrem eigenen Landsmann Philippe Lazzarini, der das UNRWA-Hilfswerk seit vier Jahren mit grosser Umsicht, grossem Engagement und Sachverständnis führt. Dass die Zahlungen an die UNRWA um die Hälfte gekürzt wurden und selbst dies noch am Widerstand bürgerlicher Politikerinnen und Politiker scheitern könnte, sieht nur auf den ersten Blick nach einem gutschweizerischen Kompromiss aus. In Tat und Wahrheit ist es eine jeglicher Verhältnismässigkeit spottende Absage an die jahrhundertealte demokratische, humanitäre und neutralitätspolitische Tradition unseres Landes. Denn, wie auch Lazzarini sagt: “Wenn wir die UNRWA in einer solchen Krise wie der heutigen abschaffen, werden wir die Verzweiflung der Menschen nur noch vergrössern, die Saat für künftige Ressentiments, Rache und Gewalt nur noch weiter säen und jeden zukunftsgerichteten politischen Prozess schon zum Vornherein untergraben.”