“Das moralische Klassenzimmer” – so der Titel eines Artikels in der “NZZ am Sonntag” vom 14. Januar 2024, in dem auf aktuelle Tendenzen hingewiesen wird, Kinder und Jugendliche in den Schulen von klein auf zu möglichst “politisch korrektem Verhalten” zu erziehen, was unter anderem dazu führen könne, dass sich – je nach Umfrage – etwa ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler “ausgegrenzt” und “benachteiligt” fühlten, weil sie sozusagen eine “falsche Werthaltung” an den Tag legten.
Diese Kritik ist, wenn sie oft auch weit übers Ziel hinausschiesst, im Grunde doch nicht gänzlich unberechtigt. Denn zu frühes Moralisieren im Klassenzimmer kann das Gegenteil der guten Absicht bewirken. Kinder lernen nicht vor allem aus dem, was man ihnen mit Worten zu vermitteln versucht, sondern aus dem, was man ihnen vorlebt. Statt über alle möglichen Themen vom Konsumverzicht über Rassismus bis zum Klimawandel zu debattieren, sollte sich die Schule vielmehr zum Ziel setzen, Kindern und Jugendlichen eine Umgebung voller Lebensfreude, Humor und gegenseitiger Wertschätzung zu bieten, in der sich ein jedes Kind geliebt und verstanden fühlt, ganz unabhängig von seiner „Werthaltung“, die sich ja in diesem Alter ohnehin noch in stetiger Entwicklung und Veränderung befindet. Denn geliebte, in ihrer individuellen Einzigartigkeit wahrgenommene Kinder werden in aller Regel zu Erwachsenen, die ihren Mitmenschen und ihrer ganzen Lebensumgebung den gleichen Respekt und die gleiche Sorgfalt entgegen bringen, welche sie selber als Kinder erfahren durften.
Leider bewirkt das traditionelle Schulsystem, in dem die Kinder bei ihrem Lernen stets miteinander verglichen und bewertet werden und viele von ihnen dadurch ihr ursprüngliches Selbstvertrauen verlieren, genau das Gegenteil jener Grundhaltung der Liebe, auf die alle Kinder das gleiche Recht haben. Deshalb müsste man eigentlich viel eher die Lehrkräfte, die Eltern und am besten auch das ganze Bildungssystem in die Schule schicken, den Kindern selber aber bei ihrem Lernen und bei der Entfaltung ihrer Persönlichkeit so viel Freiheit und Selbstbestimmung zugestehen als nur irgend möglich. Schon Johann Heinrich Pestalozzi warnte vor über 250 Jahren davor, im Umgang mit Kindern zu früh mit den “Wörtern”, diesen “gefährlichen Zeichen des Guten und des Bösen”, die geistige Entwicklung in eine bestimmte Richtung lenken zu wollen, obwohl die hierfür notwendige Lebenserfahrung des Kindes auf der Ebene des Erlebens und des Emotionalen noch gar nicht vorhanden sei.