„Wer in der Gepäcksortieranlage des Flughafens Kloten arbeitet“, so schreibt der „Tagesanzeiger“ vom 16. September 2022, „weiss am Abend, was er getan hat. Es ist harte körperliche Arbeit, von der kein Fluggast etwas mitbekommt. Eine Arbeit, die neue Angestellte bisweilen derart unterschätzen, dass sie schon nach wenigen Tagen wieder kündigen. An Spitzentagen belädt ein Mitarbeiter in einer 8-Stunden-Schicht rund 60 Wägeli à 300 Kilo. Das sind also insgesamt etwa 20 Tonnen. Etliche Gepäckstücke bringen 20 Kilo oder noch mehr auf die Wage. Zudem führt der ausgedünnte Fahrplan dazu, dass noch mehr Verbindungen in die drei Hauptverkehrszeiten gequetscht werden. Denn für viele Gäste sind kurze Umsteigezeiten das Hauptkriterium für die Wahl einer bestimmten Flugverbindung. Doch äusserst anstrengende Arbeit fällt nicht nur in der Sortierhalle an, sondern auch auf dem Rollfeld, wo die Arbeitsbedingungen noch um einiges härter sind. Egal, ob es regnet, schneit oder das Thermometer, wie das diesen Sommer mehrmals der Fall war, auf 60 Grad klettert, die Koffer müssen ins Flugzeug. Im Bauch der Maschine schichtet der eine Mann Gepäckstücke auf, welche ihm ein anderer vom Förderband zureicht. Platzangst darf man hier keine haben, Rückenweh auch nicht. Der Frachtraum ist so niedrig, dass man sich selbst auf den Knien nicht aufrichten kann.“
„Ein Stacheldrahtzaun zieht sich rund um die Beirut Terraces, einen 119 Meter hohen Wohnturm, der in einem der besten Quartiere der libanesischen Hauptstadt steht“, so ist in „20minuten“ vom 23. September 2022 zu lesen. Die Wohnungen, die in dem Wohnturm untergebracht sind, strotzen vor Luxus. Eine Wohnung im 12. Stock, 500 Quadratmeter gross, ausgestattet mit Böden aus Marmor, mit begrünten Terrassen und beeindruckender Aussicht, kostet 3,5 Millionen Dollar. Die im gleichen Gebäude untergebrachten Zimmer für die Hausangestellten dagegen verfügen über gerade mal knapp zwei Quadratmeter und sind fensterlos. Die rund 250’000 Hausangestellten aus Afrika und Asien, die im Libanon arbeiten, haben tägliche Arbeitszeiten von bis zu 18 Stunden, und dies ohne Pause. Sie kochen, putzen, waschen, servieren und führen den Hund aus. Ihren Hunger stillen sie meist erst abends, wenn sie die übriggebliebenen Reste essen dürfen. Häufig werden sie angeschrien, herumkommandiert oder geprügelt. Manche Hausangestellte verfügen nicht einmal über ein eigenes Zimmer, sondern müssen die Nacht auf einem verglasten Balkon, auf dem Küchenboden oder im Badezimmer verbringen.“
Was haben der Bericht von den Gepäckarbeitern auf dem Zürcher Flughafen und der afrikanischen und asiatischen Hausangestellten in Beirut miteinander zu tun? Ganz offensichtlich sehr viel. Es sind zwei Beispiele aus der weltweiten kapitalistischen Klassengesellschaft, der unzählige weitere hinzugeführt werden könnten. Sie alle zeigen, dass diese kapitalistische Klassengesellschaft stets eine süsse und eine bittere Seite hat, die fein säuberlich voneinander getrennt sind: Die Fluggäste auf dem Weg nach den Malediven, die sich behaglich in ihre Sessel zurücklehnen und ihren Prosecco schlürfen, merken nichts von der Schufterei und den Schmerzen der Gepäckarbeiter, die gleichzeitig im Bauch des Flugzeugs damit beschäftigt sind, dass alle Fluggäste stets pünktlich und einwandfrei ihre Koffer am Zielort in Empfang nehmen können. Und die Damen und Herren der libanesischen Oberschicht, die ihre Hausmädchen bis aufs Blut quälen, wissen nicht, wie es in ihren Herzen aussieht und wie viele Tränen sie voller Sehnsucht nach ihrer Heimat in ihren winzigen, fensterlosen Kopien Nacht für Nacht vergiessen.
Nur aus der Sicht der Reichen und Privilegierten, derer auf den oberen und obersten Rängen der gesellschaftlichen Machtpyramide, ist diese Welt die beste aller möglichen Welten. Für die auf den unteren und untersten Rängen gilt das pure Gegenteil. Die süsse und die bittere Seite des Kapitalismus, die unauflöslich miteinander verbunden sind, denn die Welt ist für die einen nur deshalb so schön, weil sie für die anderen so qualvoll und so schrecklich ist.
Es liegt im ureigenen Interesse all derer, die auf der süssen Seite der kapitalistischen Klassengesellschaft leben, dass sich daran auch nichts ändert. Politik, Wirtschaft, Medien – sie alle halten zusammen und erzählen die Geschichten von Ausbeutung und Unterdrückung stets nur bruchstückhaft, so als handle es sich um lauter voneinander unabhängige Einzelfälle, ganz und gar getreu dem Motto des Römischen Reichs vor 2000 Jahren, wo die Devise „Divide et impera“ galt – Teile und herrsche, lass unter deinen Gegnern keine Solidarität aufkommen, wiegle sie gegeneinander auf, dann hast du leichtes Spiel, deine Macht über sie aufrechtzuerhalten.
Und so muss sie erst noch erzählt werden, die grosse, ganze Geschichte. Dass nämlich die Geschichte von der Arbeit auf der Gepäckabfertigung eines Zürcher Flughafens und die Geschichte asiatischer und afrikanischer Hausmädchen im Libanon nur zwei Einzelteile einer viel grösseren Geschichte sind, der Geschichte der weltweiten Klassengesellschaft. Erst dann, wenn die ganze Geschichte erzählt wird, kann so etwas entstehen wie internationale Solidarität, bei der sich die geknechteten und ausgebeuteten Menschen im einen Land für die geknechteten und ausgebeuteten Menschen in anderen Ländern einsetzen und umgekehrt. Wie viele Leiden braucht es noch, wie viele kaputtgearbeitete Rücken und wie viele Tränen in der Nacht, bis die Menschen das begreifen?