“Gendern” – eine rein akademische Luxusdiskussion?

 

Gemäss “Sonntagszeitung” vom 21. November 2021 postuliert Paul Gygax, Unidozent und Leiter der Arbeitsgruppe Psycholinguistik an der Universität Freiburg, in seinem soeben erschienen Buch “Denkt das Gehirn männlich?” die konsequente Verwendung weiblicher Sprachformen, das so genannte “Gendern”. Zweifellos ist das “Gendern” eine wichtige, ja geradezu unerlässliche gesellschaftspolitische Forderung im Hinblick auf die Gleichberechtigung der Geschlechter. Doch leider ist das “Gendern” bis heute praktisch ausschliesslich eine akademische Diskussion. Die Verwendung männlicher und weiblicher Formen ist weit davon entfernt, bis in Restaurantküchen, Fabrikhallen, Baustellen oder Wohnzimmer ganz “gewöhnlicher” Durchschnittsfamilien vorgedrungen zu sein. Wer im “Gendern” das eigentliche Hauptinstrument zur Beseitigung von Ungerechtigkeiten und Diskriminierung sieht, verkennt, dass die gesellschaftspolitischen Trennlinien eben nicht nur zwischen Männern und Frauen verlaufen, sondern vor allem auch zwischen den verschiedenen gesellschaftspolitischen Schichten in der kapitalistischen Klassengesellschaft. Der alleinerziehenden Mutter, die sich mit 3000 Franken pro Monat durchschlagen muss, nützt es nichts, wenn in den Zeitungen und Büchern, die sie sich sowieso nicht leisten kann, durchgängig männliche und weibliche Formen verwendet werden. Und die Kellnerin hat noch keinen Rappen mehr Lohn, wenn in der gepflegten Kundschaft, welche sie bedient, ausschliesslich “korrekt” gesprochen und “gegendert” wird. Auch die Arbeit der Krankenpflegerin wird kein bisschen weniger anstrengend, wenn in den Krankheitsberichten, die sie zu lesen hat, jede männliche Personenbezeichnung noch eine zusätzliche weibliche Endung aufweist. Bedeutet dies, das man auf “Gendern” verzichten sollte mit dem Argument, dies alles sei eine reine Luxusdiskussion, eine reine Zeitverschwendung von Menschen, die offensichtlich nichts Gescheiteres zu tun wüssten? Keinesfalls. Das Hinterfragen einer rein männlichen Sprachwelt ist essenziell. Aber das “Gendern” kann im besten Falle nur ein erster kleiner Schritt sein hin zu einem viel umfassenderen, grösseren. Gerechtigkeit ist nicht eine Frage von Doppelpunkten, Sternchen oder einem Binnen-I, die den bisher rein männlichen Formen von Substantiven hinzugefügt werden. Die gesellschaftspolitischen und akademischen Anstrengungen, Initiativen und Debatten, die heute mit viel Eifer in das korrekte “Gendern” investiert werden, müssten vermehrt auch für die Überwindung einer Klassengesellschaft aufgebracht werden, welche einen grossen Teil der Bevölkerung nicht nur sprachlich, sondern vor allem auch materiell diskriminiert. Man wünschte sich zum Thema der sozialen Gleichheit eine ebenso breite, intensive und leidenschaftliche Diskussion wie über die Fragen korrekter Rechtschreibung, geschlechtsneutraler Redewendungen und der Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen Sprachformen und Denkprozessen.