Gedenkfeiern an den Holocaust – und was ist mit all den anderen Opfern unserer Geschichte?

 

Am 27. Januar 1945, heute vor 76 Jahren, wurde das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau von den Alliierten befreit. Aus diesem Anlass finden in verschiedenen Städten Gedenkfeiern statt und in politischen Reden werden die Schrecken des nationalsozialistischen Terrors, dem zwischen 1935 und 1945 rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden zum Opfer gefallen sind, in Erinnerung gerufen. Auf dass sich ein solches Verbrechen nie mehr wiederholen möge und jener abgrundtiefe Rassenhass, der das Unvorstellbare überhaupt erst möglich machte, für immer der Vergangenheit angehören solle. Gedenkfeiern und Worte der Mahnung, die gerade in der heutigen Zeit von höchster Bedeutung und Dringlichkeit sind. Nur wer aus der Geschichte lernt, hat die Chance, es in Zukunft besser zu machen. Und doch haftet dem Blick auf die Schrecken des Holocausts etwas Einseitiges an. Ein Scheinwerferlicht, das sich auf eine ganz bestimmte Epoche der europäischen Geschichte richtet, gleichzeitig aber andere, ebenso schreckliche Episoden unserer Vergangenheit und Gegenwart im Dunklen lässt. Ich denke an den Sklavenhandel, an die zwangsweise Deportation von rund zwölf Millionen Afrikanern und Afrikanerinnen zwischen 1519 und 1867 nach Amerika, von denen rund 1,5 Millionen schon bei der Überfahrt ihr Leben verloren. Sklavinnen und Sklaven, deren Arbeitskraft erbarmungslos ausgebeutet wurde und von denen unzählige, wenn sie sich gegen ihre Herren zu wehren versuchten, zu Tode gefoltert wurden. Das sei kein Teil der europäischen Geschichte? Und ob! Niemand anders als europäische Handelshäuser waren die eigentlichen Organisatoren des Sklavengeschäfts und ganze Länder bauten ihren späteren Reichtum, der Europa schliesslich zum reichsten Kontinent der Welt gemacht hat, auf den Qualen, den Schmerzen und dem Blut jener zwölf Millionen Menschen auf. Wenn man für die Opfer des Holocausts Gedenkfeiern abhält, dann müsste man, wenn man der Geschichte gerecht werden will, zweifellos auch für die Opfer des afrikanisch-amerikanischen Sklavenhandels Gedenkfeiern abhalten. Ein Datum würde sich mit ein wenig gutem Willen bestimmt finden lassen. So könnte man zum Beispiel den 1. Januar 1803 feiern, den Tag, an dem das erste europäische Land, nämlich Dänemark, den Sklavenhandel verbot. Oder den Tag, an dem das letzte Sklavenschiff Afrika verliess. Oder den Tag, an dem das letzte europäische Handelshaus nicht mehr länger mit Sklavenhandel seine Geschäfte betrieb. Und weiter müsste man auch, ehrlicherweise, Gedenkfeiern abhalten für all jene Menschen, die in den vergangenen Jahrzehnten auf der Flucht nach Europa entweder auf dem Landweg oder im Mittelmeer ihr Leben verloren haben. Wiederum wird wohl der Einwand erhoben, dies hätte doch nichts mit Europa zu tun, sondern, wenn schon, mit den Ländern, aus denen die Flüchtlinge stammen. Doch wiederum ist dem zu entgegnen, dass auch dieses Problem sehr wohl und sehr direkt und sehr viel mit Europa zu tun hat. Denn dass die armen Länder arm sind und die reichen reich, ist kein Zufall, sondern die ganz logische Folge eines Wirtschaftssystems, das auf rücksichtsloser Profitmaximierung und der Ausbeutung der Armen durch die Reichen beruht. So haben jüngste Berechnungen der Entwicklungsorganisation Oxfam ergeben, dass die Industrieländer – allen voran Europa – im Handel mit den Entwicklungsländern 48 Mal mehr profitieren, als sie diesen Ländern in Form von Entwicklungshilfe wieder zurückgeben. Und auch hierfür würde sich, wenn man es wollte, zweifellos ein passendes Datum für eine Gedenkfeier finden lassen. Naheliegend wäre der 20. Juni, der Weltflüchtlingstag. Man könnte aber auch zum Beispiel den 29. Juni 2019 wählen. An diesem Tag fuhr die mutige Kapitänin Carol Rackete trotz eines Landeverbots mit ihrem Rettungsschiff und 40 Flüchtlingen in den Hafen von Lampedusa ein – eine Frau, die wohl eher als all jene Politiker und Politikerinnen, die sich mit tausend Ausreden gegen eine Aufnahme weiterer Flüchtlinge zur Wehr setzen, in die Geschichte eingehen wird. Und erst recht müsste man eine Gedenkfeier veranstalten für jene unzähligen Kinder in den Ländern des Südens, die noch vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil es ihnen an Nahrung, sauberem Trinkwasser oder Medikamenten fehlt – wiederum genau deshalb, weil die Güter weltweit so ungerecht verteilt sind und sich am einen so viel Luxus auftürmt, dass am anderen Ende schlicht und einfach nichts mehr übrig bleibt. Rund zehntausend Kinder täglich waren es schon vor der Coronapandemie, seither werden es wohl noch viele mehr sein. Das passendste Datum wäre hierfür wohl der 1. Juni, der Internationale Tag des Kindes. Freilich genügt es nicht, bloss Gedenkfeiern abzuhalten und dann wieder zur Tagesordnung überzugehen. Aber wenn man Gedenkfeiern für die Opfer des Sklavenhandels, für all die Flüchtlinge und ihre verzweifelte Hoffnung auf ein besseres Leben und für die namenlosen Kinder der Welt, die nicht einmal fünf Jahre alt werden dürfen, wenn man für sie alle auch so eindringliche Gedenkfeiern wie für die Opfer des Holocaust abhalten würde, dann würde sich in den Köpfen mit der Zeit vielleicht doch etwas ändern und die Einsicht würde wachsen, dass wir nicht nur derer gedenken sollten, die schon gestorben sind, sondern vor allem auch derer, die noch leben.