Gedanken in der Nacht vom 25. auf den 26. Dezember…

 

Da gerät doch vor lauter Glitzerkerzen, wundervollen Weihnachtsliedern und dem Festtagsbraten tatsächlich die andere Seite der Geschichte ganz und gar aus unserem Blickfeld. Diese andere Seite ist eine Geschichte voller Verbrechen, unsäglicher Leiden, unbeschreiblicher Demütigung und Erniedrigung von Menschen. Doch wie hatte das alles angefangen? Angefangen hatte es mit diesem sagenumwobenen Jesus, welcher nicht davor zurückschreckte, Ideen der Liebe und der Gerechtigkeit in die Welt zu setzen, Ideen, die angesichts der herrschenden Machtverhältnisse höchst gefährlich waren und ihn schliesslich sogar das Leben kosten sollten. Ob Jesus tatsächlich in einem Stall in der Nähe von Bethlehem geboren wurde, ob er drei Tage nach seinem Tod wieder auferstand und ob er tatsächlich der Sohn Gottes war – dies alles ist Gegenstand von Spekulationen und wird wohl niemals restlos geklärt werden. Tatsache aber ist, dass Jesus eine Botschaft verbreitete, die, nähme man sie Ernst, bis heute ein machtvolles Instrument gegen jegliche Form von Ungerechtigkeit und Unterdrückung sein müsste. Wie sehr nicht nur Jesus selber, sondern auch seine Anhängerinnen und Anhänger von den damaligen Machthabern als gefährliche “Rebellen” und “Revolutionäre” angesehen wurden, zeigt sich auch darin, dass zahllose Urchristen und Urchristinnen im Römischen Reich aufs Brutalste verfolgt, hingerichtet und oft öffentlich verbrannt wurden. Das änderte sich erst im Jahre 380, als der oströmische Kaiser Theodosius I das Christentum zur Staatsreligion erklärte. Und so wurde das, was ursprünglich eine Botschaft der Befreiung, der Gerechtigkeit und des Friedens gewesen war, sozusagen von einem Tag zum andern zu einem Instrument in der Hand der Reichen und Mächtigen gegen die Armen und Wehrlosen. Wo immer die Reichen und Mächtigen Europas ihre Feldzüge planten, wo immer sie Menschen ihrer Freiheit beraubten und sie zu Sklavinnen und Sklaven machten, wo immer sie die Erde verbrannten und alle Reichtümer der Erde ins Gold ihrer Paläste verwandelten: Stets taten sie dies alles im Namen Gottes. Zehntausende von Moslems fielen sieben “christlichen” Kreuzzügen auf dem Gebiet des Nahen Ostens zwischen 1100 und 1300 zum Opfer. Und als Christoph Kolumbus 1492 Amerika entdeckte, begann ein weiteres tiefschwarzes Kapitel in der Geschichte der Menschheit: Seite an Seite mit den europäischen Eroberern drangen die “christlichen” Missionare in die besetzten Gebiete ein und zwangen, stets mit der Bibel in der Hand, die einheimische Bevölkerung dazu, den christlichen Glauben anzunehmen – wer sich weigerte, wurde zu Tode gefoltert. Dann war Afrika an der Reihe: Im Laufe dreier Jahrhunderte verfrachteten europäische Handelsgesellschaften über zwölf Millionen Männer, Frauen und Kinder nach Amerika, wo sie auf bestialischste Weise zu lebenslanger Zwangsarbeit verdammt wurden – und auch das alles “im Namen Gottes”. Auch der belgische König Leopold I hatte die Bibel in der Hand, als er seinen Gouverneuren im Kongo den Befehl erteilte, allen Arbeiterinnen und Arbeitern, welche nicht die geforderte Menge an Kautschuk zusammenbrachten, die Hände abzuhacken. Kein bisschen besser erging es jenen rund 50’000 Menschen, grösstenteils Frauen, die, hauptsächlich zwischen 1550 und 1650, als “Hexen” verurteilt, oft zu Tode gefoltert oder öffentlich verbrannt wurden – und auch die Richter, welche die Todesurteile fällten, beriefen sich bei ihrem Tun stets auf den “christlichen” Gott. Selbst Adolf Hitler nannte in dem vom ihm erlassenen “Ermächtigungsgesetz” die christliche Religion als den “wichtigsten Faktor in der Erhaltung des deutschen Volkstums.” Auch der chilenische Diktator Augusto Pinochet sah sich als Machthaber von Gottes Gnaden. Und selbst der US-amerikanische Präsident George W. Bush war sich nicht zu schade, ein eben vom Stapel gelaufenes Atom-U-Boot auf den Namen “Corpus Christi” zu taufen. Eigentlich müsste man am 24. Dezember nicht Kerzen, Kugeln und Schokoladeengel an den Weihnachtsbaum hängen, sondern die Bilder abgehackter Hände, totgeprügelter Sklaven und verbrannter Hexen. Eigentlich müsste die Geschichte des “Christentums” in seiner Form unsäglichen Missbrauchs durch profitgierige Machthaber, Landeroberer, Vergewaltiger, Folterer, Patriarchen und Kriegsherren endlich einmal aufgearbeitet werden. Eigentlich müsste für so viele Verbrechen in irgendeiner Form Wiedergutmachung geleistet werden. Eigentlich wäre es allerhöchste Zeit, allen diesen über Jahrhunderte hinweg “im Namen Gottes” begangenen Verbrechen in die Augen zu blicken. Und eigentlich wäre es höchste Zeit, die revolutionäre Botschaft des ursprünglichen Christentums wieder neu zu entdecken – als eine Kraft, die, so wie das damals Jesus tat, auch heute wieder die ganze Welt auf den Kopf stellen würde, diese Welt voller Kriege, voller Ungerechtigkeiten, voller Armut und Hunger und voller Zerstörungsgewalt gegenüber den natürlichen Lebensgrundlagen. Hierfür brauchen wir gar nicht so weit zu gehen. Denn Jesus hatte auch hierfür das richtige Wort, indem er die Menschen dazu aufrief, so zu werden wie die Kinder. Nicht die schön eingepackten Stofftiere, Baukästen und Schaukelpferde sind die wertvollsten Weihnachtsgeschenke. Die wertvollsten Weihnachtsgeschenke sind die Kinder selber, die alle noch eine tiefe Erinnerung an eine Welt voller Liebe und Gerechtigkeit in sich tragen, eine Welt, von der wohl insgeheim alle Menschen weltweit träumen und auf die so viele von ihnen dennoch schmerzlichst verzichten müssen. Wäre diese Botschaft nicht die revolutionärste, die man sich nur vorstellen kann? Dass das Paradies nicht etwas ist, worauf wir warten müssen, bis wir gestorben sind – sondern etwas, was sich hier und heute auf der Erde verwirklichen lässt, wenn nur genug Menschen daran glauben und dafür arbeiten. Wenn heute Kinder und Jugendliche auch bei eisiger Kälte auf die Strasse gehen, um gegen den drohenden Klimawandel ihre Stimme zu erheben, wenn Menschen ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um Flüchtlingen das Leben zu retten, wenn sich immer mehr Frauen gegen patriarchale Machtverhältnisse zur Wehr setzen, wenn Ureinwohnerinnen und Ureinwohner im Amazonasgebiet für ihre Rechte kämpfen, wenn immer mehr Menschen das weltweite kapitalistische Macht- und Ausbeutungssystem radikal in Frage stellen und sich selbst durch den Vorwurf, sie seien unverbesserliche “Kommunisten”, nicht beirren lassen, dann sind das alles Zeichen dafür, dass Jesus selber zwar längst gestorben ist, seine Ideen und seine Botschaft aber bis auf den heutigen Tag nicht das Geringste an Aktualität eingebüsst haben…