Fünf Lügen, die es uns so schwer machen, an eine Zukunft ohne Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Kriege zu glauben…

 

Ja, es braucht viel Kraft, um in dieser schweren Zeit zunehmender sozialer Ungerechtigkeit, kriegerischer Auseinandersetzungen bis hin zur Angst vor einem möglichen Atomkrieg und der Bedrohung zukünftiger Lebensgrundlagen durch den Klimawandel nicht zu verzweifeln. Viele Menschen, die sich eben noch für gesellschaftliche Veränderungen eingesetzt hatten, scheinen inzwischen aufgegeben zu haben. Auch die Klimabewegung hat ihren Schwung und ihre enorme Ausstrahlungskraft, die sie unlängst noch hatte, verloren. Und nichts anderes gilt für die Friedensbewegung, die ausgerechnet jetzt, wo ihre Botschaft aktueller wäre denn je, seltsam stumm geworden ist. Wie ist das zu erklären? Ich sehe fünf Lügen oder Scheinwahrheiten, welche diese Resignation, zumindest teilweise, erklären könnten. Die erste dieser Lügen: Der Mensch sei von Grund auf schlecht, Gier, Hass, Zerstörung und Kriege lägen in seiner Natur und die Selbstvernichtung sei nur die logische Folge davon. Doch wir brauchen nur in die Augen eines Kindes zu schauen, um zu wissen, dass diese Behauptung eine immense Lüge ist. Wie jede Blume und jeder Baum ist auch jeder Mensch ein Wunder der Natur, ausgestattet mit den wunderbarsten Anlagen und Begabungen, voller Kreativität, Neugierde, Lebenslust und Liebe – wer auch immer den Menschen erschaffen hat, er wäre der grösste Narr gewesen, hätte er ihn bloss dazu geschaffen, sich selber zu vernichten. “Der Mensch ist gut und will das Gute”, sagte der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi, “und wenn er böse ist, dann hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.” Auch Rutger Bregman schreibt in seinem kürzlich erschienen Buch “Eine neue Geschichte der Menschheit”: “Tief in uns drinnen sind wir kooperativ, freundlich, liebevoll, altruistisch, kurz: gut.” Und auch Mahatma Gandhi teilte diese Sichtweise: “Und wenn ich verzweifle, dann erinnere ich mich, dass durch alle Zeiten in der Geschichte der Menschheit die Wahrheit und die Liebe immer gewonnen haben. Es gab Tyrannen und Mörder und eine Zeitlang schienen sie unbesiegbar, doch am Ende scheiterten sie immer.” Die zweite Lüge: Habgier, Zerstörung und Krieg wären schon immer Wesenszüge der menschlichen Geschichte gewesen und würden es daher auch immer bleiben. Was für ein kurzsichtiger Gedanke. Ebenso gut könnte man sagen: Der Mensch habe immer schon in Höhlen gelebt und sei immer schon in einem Bärenfell herumgelaufen und werde daher auch bis in alle Ewigkeit weiterhin in Höhlen leben und in einem Bärenfell herumlaufen. Wie verrückt! Der technisch-naturwissenschaftlichen Entwicklung des Menschen, angefangen von der Steinzeitkeule bis zur Weltraumrakete, traut man unglaubliche Fortschritte zu, bei der geistig-moralischen Weiterentwicklung gibt man sich damit zufrieden, dass halt eben alles so sei, wie es immer schon gewesen sei. Was für eine unglaubliche Diskrepanz. Dabei läge es doch in der Hand des Menschen, mit ebenso viel Neugierde, Kreativität und Geschicklichkeit, wie er weltumspannende Kommunikationssysteme, selbstfahrende Autos oder Weltraumteleskope baut, auch eine Welt ohne Waffen und Kriege, soziale Gerechtigkeit und eine Wirtschaft im Gleichgewicht mit der Natur aufzubauen. Die dritte Lüge: Es gäbe keine Alternative zum Kapitalismus, alle Versuche einer alternativen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung seien gescheitert. Nun, dass Alternativen zum Kapitalismus, aus was für Gründen auch immer, gescheitert sind, heisst noch lange nicht, dass der Kapitalismus die einzige mögliche, beste und unersetzliche Art und Weise sei, wie Menschen auf diesem Planeten ihre Wirtschaftsweise und ihr Zusammenleben organisieren könnten. Wenn dem so wäre, dann wäre die Menschheit tatsächlich dem Untergang geweiht, denn die inneren Widersprüche des Kapitalismus von der Ungleichverteilung der Güter und Reichtümer über die kriegerische Expansion im Kampf um Rohstoffe und Einflusssphären bis zur fixen Idee eines immerwährenden Wirtschaftswachstums mit der daraus folgenden Zerstörung zukünftiger Lebensgrundlagen sind dermassen zerstörerisch, dass der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom “Ende der Geschichte” sprach und damit den endgültigen Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus meinte, im Nachhinein noch Recht bekommen könnte, nur nicht so, wie er es gemeint hatte, sondern so, dass der Kapitalismus am Ende der Geschichte auch das Ende der Menschheit bedeuten könnte. Nein, der Kapitalismus hat und braucht Alternativen, aber diese müssen wir nicht in der Vergangenheit suchen, sondern in der Zukunft, im Aufbau einer neuen, menschen- und naturgerechten Wirtschaftsordnung, die ein gutes Leben für alle Menschen über alle Grenzen hinweg möglich machen kann. Die vierte Lüge: Der Aufbau einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sei etwas zu Grosses, zu Schwieriges und daher undenkbar, die Kräfte der Menschen schlicht überfordernd. Nein, das Gegenteil ist der Fall. Kompliziert ist nicht das, was wir unter einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verstehen könnten. Kompliziert ist das heutige System gegenseitiger Ausbeutung, die Globalisierung mit allen ihren Tücken, die alles durchziehenden unsichtbaren Geldflüsse, die hilflosen Versuche der Politik, all die systembedingten Auswüchse wie eine total überforderte Feuerwehr immer nur dort zu löschen, wo es gerade am heftigsten brennt. Eine auf das Wohl von Mensch und Natur ausgerichtete Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wäre im Vergleich dazu etwas sehr Logisches, Einfaches. Auch hier hilft uns der Blick in die Augen des Kindes weiter: Wir sehen eine tiefe Sehnsucht nach Liebe und Gerechtigkeit. Vielleicht müssten wir die Kinder fragen, wie die Welt von morgen aussehen sollte, um gut zu sein für uns alle. Schliesslich die fünfte Lüge: Ein Einzelner könne sowieso nichts bewirken, deshalb lasse man es doch lieber gleich sein. Auch diese Lüge ist leicht zu entkräften. Denken wir nur an Mahatma Gandhi, der 1930 den berühmten Salzmarsch antrat, ganz alleine, bis ihm, nach insgesamt 388 Kilometern, Abertausende Inderinnen und Inder folgten – ein Unternehmen, das schliesslich massgeblich zur Befreiung Indiens von der britischen Kolonialherrschaft führte. Oder denken wir an Greta Thunberg, die schwedische Schülerin, die 2018 ganz alleine mit einem Protestschild aus Pappe vor dem Stockholmer Rathaus sass und die in den folgenden Monaten weltweit Millionen von Jugendlichen auf die Strassen brachte, um gegen den drohenden Klimawandel zu protestieren. “Wenn einer alleine träumt, ist es nur ein Traum”, sagte der brasilianische Erzbischof Dom Hélder Câmara, “wenn alle zusammen träumen, ist es der Beginn einer neuen Wirklichkeit.” Nun, es kann nicht jede und jeder Greta oder Gandhi sein, aber die Wirkung, die jeder und jede Einzelne auf das Ganze ausübt, ist niemals zu unterschätzen, so wie ein einzelner winziger Tropfen das Fass, welches bis oben gefüllt ist, zum Überlaufen bringen kann. Fünf Lügen, die es uns so schwer machen, an eine bessere, friedlichere und gerechtere Zukunft zu glauben. Aber alle diese fünf Lügen sind durchschaubar, überwindbar. Ihnen entgegenzustellen ist die Kraft der Visionen, etwas, was wir heute dringender nötig haben denn je. “Wenn das Leben keine Vision hat, nach der man strebt, nach der man sich sehnt, die man verwirklichen möchte”, so der Psychoanalytiker und Autor Erich Fromm, “dann gibt es auch kein Motiv, sich anzustrengen.” Auch der französische Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry befasste sich in seinen Büchern immer wieder mit der Kraft der Vision. “Wenn du ein Schiff bauen willst”, schrieb er, “so trommle nicht Menschen zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeug vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Menschen die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer.” Schliesslich die mutmachende Stimme des amerikanischen Linguistikprofessors und Publizisten Noam Chomsky: “Du hast die Wahl. Du kannst sagen: Ich bin Pessimist, das wird alles nichts, ich verzichte und garantiere damit, dass das Schlimmste kommt. Oder du orientierst dich an den Hoffnungsschimmern und den vorhandenen Möglichkeiten und sagst, dass wir vielleicht eine bessere Welt errichten werden. Eigentlich hast du gar keine Wahl.”