Friedenskundgebung für Palästina in Bern: In Trümmern liegt nicht nur der Gazastreifen, sondern auch die internationale Solidarität…

Bern, 6. April 2024, Bundeshausplatz. Ein sonniger Frühlingstag in der Hauptstadt der Schweiz. Allmählich eintrudelnde kleinere und grössere Menschengruppen. Peace-Fahnen. Auf einem grossen Plakat sind die Forderungen der heutigen Kundgebung zu lesen: Sofortiger Stopp des Aushungerns der Menschen in Gaza. Sofortiger Waffenstillstand. Sofortige Freilassung der israelischen Geiseln und von willkürlich inhaftierten palästinensischen Gefangenen. Ende der völkerrechtswidrigen Besatzung der palästinensischen Gebiete durch Israel. Weiterführung der Finanzierung des UNO-Hilfswerks für die palästinensischen Flüchtlinge (UNWRA). Kurz nach 16 Uhr die Begrüssung durch ein Mitglied der GSoA, die diesen Anlass zusammen mit Amnesty International Schweiz, der Jüdischen Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina und der Palästina-Solidarität Schweiz organisiert hat. Dann mehrere Ansprachen, von denen jede mehr unter die Haut geht als die andern, von der jungen jüdischen Friedensaktivistin bis zum palästinensischen Kinderarzt. Fassungslosigkeit und Sprachlosigkeit darüber, dass alle Friedensbemühungen seit Monaten im Sand stecken, während das unfassbare Leiden der Menschen im Gazastreifen mit bisher über 30’000 Toten, davon rund 13’000 Kindern, der Zerstörung von rund 70 Prozent sämtlicher Häuser und einer immer bedrohlicher sich abzeichnenden Hungersnot unvermindert Tag für Tag weitergeht, auch in bitterkalten Nächten pausenlos, wenn die Schreie der noch lebenden, unter den Trümmern verschütteten Kinder, nach denen ihre Eltern mit blossen Händen graben, besonders laut und anklagend zu hören sind – bis sie dann, wieder und wieder, auf einmal für immer verstummen…

Mein Blick schweift über den Platz. Gerade mal ein paar hundert Menschen sind gekommen, einzelne Medien werden von 500 Personen sprechen, andere von allerhöchstens 1000, mehr nicht. Unter ihnen Pia Hollenstein, ehemalige Nationalrätin der Grünen, und Ruth Dreifuss, frühere SP-Bundesrätin. Zwei Einzelfiguren, wie Relikte aus einer anderen Zeit, als der Einsatz für eine friedlichere Welt noch das Normale war und Abseitsstehen die Ausnahme, während es heute offensichtlich genau das Gegenteil ist. Ruth Dreifuss braucht Hilfe, um die Rednertribüne zu erklimmen, eine ganz grosse Kämpferin der alten Schule, anklagend, kein Blatt vor den Mund nehmend, und doch gleichzeitig liegt eine Heiterkeit auf ihrem Gesicht, inmitten aller tiefsten Betroffenheit die Zuversicht verbreitend, dass alles doch noch eines Tages zu einem guten Ende kommen wird.

Rückblende: März 2003, kurz vor dem Ausbruch des Kriegs der USA gegen den Irak. Ich erinnere mich noch gut. Schon in der Unterführung des Berner Hauptbahnhofs eine Menschenmasse, die sich wie ein unaufhaltsamer Strom so weit dahin wälzte, wie das Auge kaum hinzureichen vermochte. Rund 40’000 waren gekommen, aus allen Ecken und Enden das Landes. Ein Meer von Fahnen und von winzigen bis ganz grossen Schildern und Plakaten voller origineller Parolen und Zeichnungen, viele von ihnen von Kindern gemalt. Und heute? Fahnen – ausser die Peace-Fahnen – sind verboten, Pappschilder, Transparente und Parolen jeglicher Art ebenfalls. Das einzige Plakat, das trotz des Verbots mitgeführt wird und auf dem “Stoppt den Völkermord in Gaza!” zu lesen ist, erregt sogleich die Aufmerksamkeit von zwei Mitarbeitern eines privaten Sicherheitsdienstes, welche die Plakatträgerin ansprechen, sie dann aber nach einem kurzen Disput “grosszügerweise” gewähren lassen.

Was ist im Verlaufe dieser 21 Jahre passiert? Weshalb konnte sich die Welt so dramatisch verändern? Wo sind die Herzen geblieben, die damals für die Menschen im Irak schlugen, und denen das heutige Leiden der Palästinenserinnen und Palästinenser so gänzlich gleichgültig zu sein scheint? Wer, wo, wann und mit welchen Mitteln wurden all jene Fäden zerrissen, die es, über alle Grenzen hinweg, damals noch gab und von denen heute kaum mehr etwas zu sehen ist? Haben wir unsere Herzen verloren? Wo ist die Parteikollegin, fünf Tramminuten vom Bundeshausplatz entfernt wohnend, mit der ich in jüngeren Jahren noch stundenlang über die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus ihren ursprünglichen Lebensgebieten diskutierte, voller Mitgefühl für dieses geplagte Volk, hätte sie nicht wenigstens heute nur für ein einziges Mal ihren samstäglichen Saunatermin absagen können, und wäre es bloss gewesen, um der von ihr einst so bewunderten und geliebten Bundesrätin Ruth Dreifuss die Ehre zu erweisen?

Irgendetwas ganz Fürchterliches muss geschehen sein. Denn heute liegt nicht nur der Gazastreifen in Trümmern. Nein, auch die internationale Solidarität scheint in Trümmern zu liegen. Es ist wohl so ganz schleichend gekommen, wie oft bei grossen Katastrophen. Man nimmt es nicht so deutlich wahr wie ein Erdbeben oder einen Wirbelsturm. Aber es kann, in ganz kleinen, winzigen Portionen am Ende zum gleichen Ergebnis führen und genauso verheerend sein. Denn dass heute auf dem Bundesplatz in Bern nur etwa 500 bis 1000 Leute stehen und nicht 40’000 oder 100’000, hat buchstäblich tödliche Folgen. Denn es kann denen, die an einem Ende dieses unsäglichen Blutvergiessens kein Interesse haben und schon gar nicht an einem Ende aller Kriege und aller Aufrüstung, als bester Vorwand dafür dienen, den herrschenden Wahnsinn als das “Normale” ohne Widerstand unvermindert weiterzuführen, sind es doch nicht einmal 1000 von 9 Millionen Menschen in diesem Lande, die das nicht gut finden. Es ist sogar so, dass sie es nicht einmal zur Kenntnis nehmen müssen und es buchstäblich totschweigen können. In der Tat. Nicht einmal eine Sekunde ist es ihnen wert, die Öffentlichkeit darüber zu informieren: Als ich mir am Abend nach der Kundgebung die Tagesschau am Schweizer Fernsehen anschaue, muss ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass mit keinem einzigen Wort und keinem einzigen Bild über diese Kundgebung berichtet wird. Stattdessen ein ausführlicher Bericht, wie “die Schweiz” diesen wunderbaren Frühlingstag genossen hätte: Leute im Badekostüm in der Sonne brutzelnd, Würste auf dem Grill, fröhliche Gesichter allenthalben. Aber wenigstens, denke ich, wird doch wohl in der Spätausgabe etwas zu sehen sein. Fehlanzeige! Wieder nichts, einfach nichts. Dafür noch einmal die Menschen im Badekostüm, Menschen, die ins Wasser springen, Würste auf dem Grill. Alles scheint wichtiger zu sein als der Auftritt einer ehemaligen, von der ganzen Schweiz so tief verehrten Bundesrätin und ihrer so unglaublich wichtigen und buchstäblich lebensnotwendigen Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand in Gaza. Badeplausch, Menschen mit Sonnenbrille und Würste auf dem Grill: Wichtiger als die Tränen einer jungen Jüdin, die offensichtlich so sehr leidet, dass im Namen ihres Landes und ihrer Religion so unglaubliche Verbrechen begangen werden, mit denen sie am liebsten nicht das Geringste zu tun haben möchte. Badefreuden und Grillwürste wichtiger als die gebrochene Stimme eines palästinensischen Kinderarztes, der über den Tod seines besten Freundes erzählt, der die schwerverletzten Kinder in dem Spital, wo er gearbeitet hatte, um nichts in der Welt verlassen wollte und dafür mit seinem Leben bezahlen musste, dieser so liebenswürdige, bescheidene und zutiefst menschliche palästinensische Kinderarzt, der das erzählt und dabei die Tränen kaum zurückhalten kann und so ein zutiefst anderes Bild eines palästinensischen Mannes vermitteln würde als jenes, das in Form eines schwerbewaffneten Hamaskämpfers in den Köpfen wohl der meisten Menschen hierzulande festsitzt, die in jedem Palästinenser einen potenziellen Terroristen vermuten und deshalb auch so unglaublich grosses Verständnis aufbringen für die Politik der derzeitigen israelischen Regierung, all dieses “Böse” so schnell wie möglich auszulöschen, selbst unter Hinnahme des Todes zehntausender unschuldiger Männer, Frauen und Kinder.

Auch im “Tagesanzeiger” suche ich vergeblich einen Bericht über die Kundgebung in Bern…

Doch die Frage nach den zerrissenen Fäden früherer Solidarität ist noch nicht beantwortet. Ein Schlüssel hierzu könnte jene inzwischen schon fast legendäre Aussage der damaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher sein, die im Jahre 1987 Folgendes zum Besten gab: “So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht, es gibt nur Individuen.” Seither ist der Geist des “Neoliberalismus” – der im Grunde nichts anderes ist als der noch weiter als je zuvor auf die Spitze getriebene Kapitalismus – wie ein Tsunami in winzigen Portionen ins Land gezogen und ist auf dem besten Wege, alles, was die Menschen mitfühlend und mitleidend miteinander verbindet, nach und nach auszulöschen. Es ist die Lehre, dass jeder nur für sich selber verantwortlich sei, seines eigenen Glückes Schmied sei und sich daher auch nicht um das Leiden und das Schicksal anderer zu kümmern brauche, da diese ja in aller Regel an ihrem Elend selber schuld seien und deshalb auch nichts anderes verdient hätten. Es ist die Lehre, dass es den “Kapitalismus” und alle seine Mechanismen von Ausbeutung, Unterdrückung und Bereicherung der einen auf Kosten der anderen gar nicht wirklich gäbe, sondern wir alle sozusagen in einer völlig wertefreien und der glücklichsten aller möglicher Welten leben würden, in der es den Menschen besser gehe als je zuvor. Alles andere, selbst der tägliche Tod Abertausender von Kindern durch Armut, Hunger und Kriege, seien bloss “Kollateralschäden” und hätten nicht das Geringste mit der Art und Weise zu tun, wie die Glücklichen dieser Welt mit Badeplausch, Sauna und Grillwürsten weiterhin ohne schlechtes Gewissen ihr Glück geniessen könnten…

Gegen Ende der Kundgebung zieht eine Gruppe von japanischen Touristinnen und Touristen hinter dem Rednerpult vorbei, wo gerade der palästinensische Kinderarzt unter Tränen vom Tod seines besten Freundes erzählt. Skurriler könnte das Bild nicht sein. Die Japanerinnen und Japaner bleiben erstaunt stehen, kichern und zücken ihre Handys. Das Bild von der Kundgebung mit den Peace-Fahnen wird für sie neben dem Matterhorn und der Kappelbrücke in Luzern eines von vielen Erinnerungsbildern an Europa sein, eine Touristenattraktion wie so viele andere. Ja, die Globalisierung hat buchstäblich alle Grenzen gesprengt, Informationen sausten noch nie so schnell und in solcher Fülle um den ganzen Erdball. Auch im Strassencafé, wo ich anschliessend ein Bier trinke, gucken alle wie gebannt in ihre Handys. Was sehen sie? Was suchen sie? Werden wir unser Herz, unsere Fähigkeit, das Leiden anderer wahrzunehmen, mitzufühlen, das Bewusstsein, dass alles miteinander zusammenhängt und jeder Einzelne und jede Einzelne für alles mitverantwortlich ist, was in jeder Sekunde hier auf dieser Erde irgendwo geschieht, werden wir das alles je in unseren Herzen wieder finden?

(Nachtrag am 8. April 2024. Meine Anfrage an SRF, weshalb über diesen Anlass in der Tagesschau des Schweizer Fernsehens nicht berichtet worden sei, wurde wie folgt beantwortet: “In der Schweiz und auf der Welt passieren täglich unzählig viele Sachen. Leider ist es uns nicht möglich, über jedes Ereignis zu berichten. In den News-Sendungen, die zeitlich beschränkt sind und meist über Tagesaktualitäten berichten, ringen wir tagtäglich um die richtigen Prioritäten und das richtige Mass – es ist verständlich, dass diese Aufgabe eine schwierige ist und man immer darüber diskutieren könnte, ob dieses oder jenes in unserer Berichterstattung noch hätte Platz finden sollen. Bei der Themenauswahl orientieren wir uns stets an den publizistischen Leitlinien von SRF. Bei SRF wird die Themenwahl von den Kriterien Relevanz und Publikumsinteresse bestimmt. In jeder Publikation muss sich diese Gewichtung spiegeln.”– Interessant, Grillwürste in der Schweiz haben also eine höhere Priorität als der drohende Hungertod von Abertausenden palästinensischer Kinder. Bisher war ich strikt gegen eine Senkung der SRG-Gebühren. Jetzt muss ich mir das noch einmal gut überlegen.)

(Nachtrag am 15. April 2024: Auch an die Redaktion des “Tagesanzeigers” habe ich geschrieben, bis heute, mehr als eine Woche später, noch keine Antwort bekommen. So also geht demokratische Berichterstattung in einem demokratischen Land in dieser Zeit.)