“Freiheit” und “Demokratie” tönen ja gut, aber nur in den Ohren jener, die das nötige Kleingeld haben, um sich diese auch tatsächlich leisten zu können.

 

Die Demokratie befindet sich weltweit auf dem Rückzug. Zu diesem ernüchternden Schluss, so berichtet Radio SRF am 30. November 2011, kommt die globale Demokratieagentur Idea in Stockholm in ihrem jüngsten Jahresbericht. Noch nie seit 1990 hätte es so wenige und so schwache Demokratien gegeben wie heute. Als positives Beispiel wird explizit die Schweiz genannt: Sie gehöre zu den entwickeltsten und stabilsten Demokratien der Welt.

Doch gerade am Beispiel der Schweiz zeigen sich – stellvertretend für alle anderen demokratischen Länder – die Grenzen des Begriffs der “Demokratie” in einer kapitalistischen Welt. Und zwar unter mindestens drei Aspekten: dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit, dem Aspekt individueller Freiheitsrechte und dem Aspekt der Erhaltung zukünftiger Lebensgrundlagen.

Demokratie und soziale Gerechtigkeit. In sämtlichen “demokratischen” Ländern hat die Kluft zwischen armen und reichen Bevölkerungsschichten im Verlaufe der vergangenen 30 Jahre kontinuierlich zugenommen. Das hat nichts mit der Demokratie zu tun, dafür umso mehr mit den Gesetzen des kapitalistischen Wirtschaftswachstums- und Finanzsystems, das dafür sorgt, dass jene, die reich sind, immer noch reicher werden, während jene, die ihre Einkommen “nur” aus Erwerbsarbeit gewinnen, am unteren Rand der Wohlstandspyramide hängen bleiben. Das heisst: Die Instrumente des “demokratischen” Staates reichen nicht aus, eine grundlegend sozial gerechte Gesellschaft mit möglichst kleinen sozialen Unterschieden zu schaffen, sondern beschränkt sich darauf, nur gerade die allerschlimmsten Auswüchse ein klein wenig abzufedern. Dies widerspiegelt sich auch in der Tatsache, dass ausgerechnet die auf der untersten und am schlechtesten entlohnten Ebene der Arbeitswelt Tätigen in geringster Zahl in Parlamenten und Regierungen vertreten sind oder dort sogar gänzlich fehlen.

Demokratie und individuelle Freiheitsrechte. Auch hier ist die “Demokratie” weit davon entfernt, die von ihr abgegebenen Versprechungen auch nur annähernd einzulösen. Freiheit ohne Gerechtigkeit ist nämlich nie echte Freiheit, es sind bloss Privilegien, welche sich ein Teil der Bevölkerung leisten kann, während ein anderer Teil darauf verzichten muss. Hat die gutbetuchte Arztfamilie die Freiheit, ob sie ihre nächsten Ferien auf den Malediven, auf Teneriffa, auf einem Kreuzfahrtschiff, auf der eigenen Segelyacht am Zürichsee oder doch lieber im Ferienhaus auf der Lenzerheide verbringen möchte, so bleibt der alleinerziehenden Verkäuferin gerade mal die “Freiheit”, ob sie mit ihrem Kind den Spielplatz am nächsten Waldrand aufsuchen oder mit der Eisenbahn, sofern ihr Geld überhaupt für ein Zugbillett reicht, die kranke Grossmutter besuchen soll. “Freiheit” und “Demokratie” tönen ja gut, aber nur in den Ohren jener, die das nötige Kleingeld haben, um sich diese auch tatsächlich leisten zu können.

Demokratie und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Die Demokratie wäre eine schlechte Staatsform, wenn sie nur für die Bürgerinnen und Bürger sorgen würde, die hier und heute leben. Deshalb heisst es zum Beispiel auch in Artikel 20a des deutschen Grundgesetzes: “Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen.” Doch auch in diesem so wichtigen und existenziellen Punkt versagt die kapitalistische “Demokratie” kläglich, indem sie nämlich der zerstörerischen kapitalistischen Wachstumsideologie und der Überproduktion von Luxusgütern für die reichen Oberschichten, welche eigentliche “Klimakiller” sind, freien Lauf lässt oder höchstens so wenig einschränkt, dass die Zerstörung der zukünftigen Lebensgrundlagen zwar ein klein wenig langsamer voranschreitet, aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. Denn, wie eine junge Klimaaktivistin einmal sagte: “Man kann die Welt auch demokratisch an die Wand fahren.”

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die kapitalistische “Demokratie” weit davon entfernt ist, die hauptsächlichen Herausforderungen unserer Zeit von der sozialen Gerechtigkeit bis hin zur Erhaltung zukünftiger Lebensgrundlagen in den Griff zu bekommen. Das ist einfach zu erklären. Entgegen dem Begriff “Volksherrschaft”, der eigentlichen Grundbedeutung des Worts “Demokratie”, regieren sich die Völker in der Welt der kapitalistischen “Demokratien” nicht selber, sondern werden von einer letztlich “autokratischen” Macht bevormundet und regiert, der Macht des Kapitals, des blinden Wirtschaftswachstums um jeden Preis, des Geldes und aller davon profitierenden reichen Bevölkerungsgruppen. So gesehen sind die einzelnen politischen Parteien in der kapitalistischen “Demokratie” nicht Ausdruck echter demokratischer Vielfalt, sondern bloss Fraktionen einer grossen kapitalistischen Einheitspartei.

Dazu kommt ausserdem der globale Aspekt. Wenn die Schweiz über eine der vorbildlichsten Demokratien verfügt, so verdanken wir dies nicht zuletzt dem Umstand, dass sich unser Land über Jahrhunderte auf Kosten anderer bereichert hat. So etwa erwirtschaftet die Schweiz nach wie vor fast 50 Mal mehr aus dem Handel mit “Entwicklungsländern”, als sie diesen Ländern in Form von “Entwicklungshilfe” wieder zurückgibt. Demokratie muss man sich auch leisten können. Es ist kein Zufall, dass praktisch alle “demokratischen” Länder der Welt vergleichsweise reiche und wohlhabende Länder sind. Soll Demokratie wirklich tiefgreifend weltweit verwirklicht werden, so geht das nur in einer Welt gegenseitiger Kooperation und Partnerschaft, ohne gegenseitige Ausbeutung und ohne Privilegien der einen auf Kosten anderer.

Demokratie ist, wie schon Winston Churchill sagte, zwar eine schlechte Regierungsform, aber immer noch besser als alle anderen. Ihre weltweite Verwirklichung wäre zweifellos eine der grössten gesellschaftspolitischen Herausforderungen unserer Zeit. Doch nicht nur in den sogenannt “autokratisch” regierten, sondern auch in den sogenannt “demokratisch” regierten Ländern des weltweit herrschenden Kapitalismus sind wir von einer echten Demokratie im Sinne einer “Volksherrschaft” noch meilenweit entfernt. Um echte Demokratie zu verwirklichen, genügt es nicht, Parlamente und Regierungen einzuführen, die vom Volk gewählt werden. Auch überall dort, wo sie scheinbar schon existiert, braucht sie eine permanente, radikale Erneuerung von unten, aus dem Volk, um nicht in einem von Geld- und Wirtschaftsinteressen dominierten Machtsystem sozialer Apartheid, Ausbeutung und der Vernichtung zukünftiger Lebensgrundlagen zu erstarren. Anders gesagt: Es geht darum, die Demokratie zu revolutionieren, um sie zu retten.