In der Welt der Wissenschaften treffen wir immer wieder auf einzelne herausragende Repräsentantinnen oder Repräsentanten ihres Fachgebiets, die oft ein so grosses öffentliches Ansehen geniessen, dass die von ihnen verkündeten Sichtweisen oder Lehren kaum noch jemals kritisch hinterfragt werden. Einer dieser Koryphäen ist Frank Urbaniok, Professor für forensische Psychiatrie mit Schwerpunkt Sexual- und Gewaltstraftaten, der während mehr als 20 Jahren den Psychiatrisch-Psychologischen Dienst des damaligen Amtes für Justizvollzug des Kantons Zürich leitete. Heute ist er als Gutachter, Berater, Supervisor und Buchautor tätig. Gemäss SRF vom 12. September 2019 ist Urbaniok „der bekannteste und einflussreichste forensische Psychiater der Schweiz“, der, „welcher uns die Seelen von Verbrechern erklärt.“
Als ich kürzlich einen öffentlichen Vortrag von Urbaniok besuchte, war förmlich zu spüren, wie die Zuhörerinnen und Zuhörer seine Worte nahezu andächtig in sich aufsaugten, als spräche da ein Wesen aus einer höheren Welt zu ihnen – quer durch die Reihen war breiteste Zustimmung zu spüren, allenthalben Kopfnicken und manchmal sogar begeisternder Zwischenapplaus. Gleichzeitig verspürte ich zunehmend ein mulmiges Gefühl in mir aufkommen, das ich mir zunächst nicht erklären konnte, das dann aber im Verlaufe des Vortrags dennoch immer stärker wurde, sodass ich dann zuhause, in Ruhe und aus einem gewissen Abstand heraus, darüber nachzudenken begann, woher und weshalb sich dieses ungute Gefühl wohl eingestellt hatte…
Vor mir habe ich den „Tagesanzeiger“ vom 28. Februar 2024 mit einem ganzseitigen Interview mit Urbaniok. Es geht um die Frage, ob man junge Erwachsene , die als Minderjährige einen Mord begangen haben, zukünftig verwahren können sollte. Urbaniok befürwortet das und weist darauf hin, dass es Fälle gäbe, bei denen sich die „erste Auffälligkeit“ schon „früh in der Kindheit“ zeige und sich das dann „im Jugendalter bis hin zu schweren Gewaltdelikten kontinuierlich steigern“ könne. In der „Luzerner Zeitung“ vom 26. Juli 2016 sagt Urbaniok, dass „ausgeprägte Risiko-Eigenschaften“ im Verhalten eines Menschen „früher oder später durchdrücken“ würden. Und im „Tagesanzeiger“ vom 14. Februar 2023 beantwortet er die Frage nach seinem Menschenbild wie folgt: „Ich würde es als skeptisch beschreiben. Ich mache mir keine Illusionen, es steckt zwar viel positives Potenzial im Menschen, aber leider auch sehr viel Negatives. Wenn man bedenkt, wie sich manche Menschen in Politik und Wirtschaft oder gegenüber der Umwelt verhalten, wie sie andere Menschen foltern, Kriege führen – das Repertoire an schädlichen Verhaltensweisen ist erschreckend gross.“
Langsam komme ich meinem Unbehagen auf die Spur…
Ist es nicht viel zu kurz gegriffen, von Missständen in Politik und Wirtschaft, von Respektlosigkeit gegenüber der Natur und von Krieg und Folter auf das Böse im Menschen zu schliessen und dabei gleichzeitig alles in den gleichen Topf zu werfen? Müsste ein seriöser Wissenschaftlicher hier nicht ganz klar und deutlich unterscheiden: Auf der einen Seite die ursprünglichen, natürlichen, abgeborenen Anlagen des Menschen, auf der anderen Seite all jene Verfehlungen, welche von Erwachsenen begangen werden, die sich bereits in einem ganz bestimmten Machtsystem bewegen und dort ganz bestimmte Rollen einnehmen und Verhaltensweisen ausüben, die sich auf ihre Mitmenschen schädlich oder gar zerstörerisch auswirken können? Denn Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein Kind bereits als potenzieller Mörder oder Vergewaltiger geboren wird, ich kann mir aber sehr wohl vorstellen, dass ein Mensch im Verlaufe seines Heranwachsens mit so vielen schädlichen Einflüssen, mit so vielen Enttäuschungen und so viel Gewalt konfrontiert wird, dass sich negative und zerstörerische Einstellungen und Verhaltensweisen nach und nach heranbilden können. Es besteht doch ab dem Moment, da ein Mensch auf die Welt kommt, eine permanente Wechselwirkung zwischen seinem eigenen Verhalten und der Umgebung, in welcher er aufwächst. Es ist doch auch längst schon erwiesen, dass erlittene Gewalt häufig wiederum späteres gewalttätiges Verhalten der Opfer zur Folge haben kann. Auch besteht erwiesenermassen ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Armut und Kriminalität, zwischen erlittenen Demütigungen und späterem übertriebenem Machtgebaren, zwischen den Wertvorstellungen der Gesellschaft – wie etwa Materialismus und Egoismus – und der Art und Weise, wie die Heranwachsenden mit diesen Wertvorstellungen zurecht kommen, sich ihnen anpassen, sich dagegen auflehnen oder daran zerbrechen.
Offensichtlich hat Urbaniok, anders kann ich mir das nicht erklären, im Laufe seiner beruflichen Tätigkeit schon mit so vielen „bösen“ Menschen zu tun gehabt, dass er früher oder später unweigerlich zum Schluss gekommen ist, das Böse müsse wohl in der Natur des Menschen liegen, etwas, was sich dann im Laufe des Lebens „kontinuierlich steigern“ und im Verhalten der betreffenden Menschen „früher oder später durchdrücken“ könne. Wer sich erst einmal auf eine solche Sichtweise festgelegt hat, kommt offensichtlich gar nicht mehr auf die Idee, das „Böse“ könnte auch ausserhalb des Individuums liegen, in den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnissen. Man erinnert sich bei einer solchen Sichtweise unweigerlich an religiöse Glaubenssätze früherer Zeiten, wie etwa jenem von der „Erbsünde“, wonach jeder Mensch als grundsätzlich „sündiges“ Wesen geboren werde und nur durch die Unterwerfung unter ein bestimmtes Glaubensbekenntnis von diesen Sünden „erlöst“ werden könne. Von einer solchen Sichtweise zu der Auffassung, dass „böse“ Menschen eher bestraft und von der Gesellschaft weggesperrt als „therapiert“ werden müssen, ist es dann freilich nur noch ein kleiner Schritt.
Urbaniok hat diesen so einseitigen Blick auf das Wesen des „Bösen“ sogar dermassen akribisch systematisiert, dass daraus ein eigens von ihm entwickeltes und in der Fachwelt höchst umstrittenes Diagnosesystem unter der Bezeichnung FOTRES (Forensisches Operationalisiertes Therapie-Risiko-Evaluations-System) mit einem dazugehörigen 654-seitigen Handbuch entstanden ist, bei dem aufgrund ausschliesslich individueller Persönlichkeitsmerkmale mithilfe eines Algorithmus, von dem niemand weiss, wie er tatsächlich funktioniert und wie viel Gewicht jedes einzelne der insgesamt 80 Kriterien hat, ermittelt werden kann, wie „gefährlich“ ein Mensch ist – Hinweise darauf, dass auch Faktoren in der Umgebung, in der ein Mensch aufwächst, für seine Entwicklung „gefährlich“ sein könnten, sucht man vergebens.
Dabei gäbe es genug andere Sichtweisen auf das Wesen des „Bösen“, die genau zu einem gegenteiligen Schluss kommen und dieses „Böse“ nicht vor allem in der Seele des Individuums orten, sondern vielmehr in den äusseren Verhältnissen, unter denen ein Mensch aufwächst. Schon der begnadete Pädagoge und Menschenfreund Johann Heinrich Pestalozzi sagte vor über 250 Jahren: „Der Mensch ist gut und will das Gute. Und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“ Auch Rutger Bregman kommt in seinem Buch „Im Grunde gut“ zum Schluss: „Dass Menschen von Natur aus egoistisch und aggressiv sind, ist ein hartnäckiger Mythos. Ein positives Menschenbild ist durchaus realistisch und lässt sich mit unzähligen Beispielen aus der Geschichte der Menschheit belegen, über die aber in den Geschichtsbüchern und den Medien leider viel zu wenig zu lesen ist.“
Ein Grossvater, auch darüber ist im Buch von Bregman zu lesen, sagte einst zu seinem Enkel: „In mir findet ein Kampf statt, ein Kampf zwischen zwei Wölfen. Einer ist schlecht, böse, habgierig, eifersüchtig, arrogant und feige. Der andere ist gut – er ist ruhig, liebevoll, bescheiden, grosszügig, ehrlich und vertrauenswürdig. Diese beiden Wölfe kämpfen auch in dir und in jeder anderen Person.“ Der Junge dachte einen Moment nach und fragte dann: „Welcher Wolf wird gewinnen?“ Der alte Mann lächelte und sagte: „Der Wolf, den du fütterst.“ Dazu Bregman: „Wenn wir glauben, dass die meisten Menschen im Grund nicht gut sind, werden wir uns gegenseitig auch dementsprechend behandeln. Dann fördern wir das Schlechteste in uns zutage. Jeder Mensch hat eine gute und eine schlechte Seite, die Frage ist, welche Seite wir stärken wollen.“ Auch Mooji, ein spiritueller Lehrer, der aus Jamaika stammt und heute in Portugal lebt, hat einmal gesagt: „Man sieht die Welt nicht so, wie sie ist, sondern so, wie man selber ist.“ Mit anderen Worten: Die Kategorien von „Gut“ und „Böse“ sind nicht in Stein gemeisselt. Sie sind fliessend und veränderbar. Es kommt darauf an, wie wir Menschen damit umgehen, wie wir sie sehen, formen und gestalten. Liebe kann sich in Hass verwandeln, aber ebenso kann sich auch Hass wieder in Liebe verwandeln.
Ich kenne ein 15jähriges Mädchen aus Angola, das wegen des dortigen Bürgerkriegs vor acht Jahren mit ihrer Mutter fliehen musste, heute in einem schweizerischen Flüchtlingsheim lebt und jederzeit damit rechnen muss, aufgrund eines negativen Asylentscheids in ihre Heimat zurückgeschafft zu werden. Sie erzählt, dass ihre Mutter in Angola fünf Mal im Gefängnis war, nicht, weil sie etwas verbrochen hatte, sondern einzig und allein aufgrund ihrer Nationalität als Kongolesin, leiden doch Menschen aus dem Kongo in Angola unter extremster Diskriminierung und kaum vorstellbarem Fremdenhass. Das Mädchen war damals sieben Jahre alt und musste, während die Mutter im Gefängnis war, jeweils im Freien übernachten, auch bei bitterer Kälte. Um sich ein klein wenig gegen die Kälte zu schützen, hätte sie nichts anderes zur Verfügung gehabt als einen Kehrichtsack. Auch hätte sie nie genug zu essen gehabt und sei häufig von Männern grundlos verprügelt worden. Doch auch der Schutz und die vermeintliche Sicherheit, die ihr und ihrer Mutter gewährt sind, seit sie als Asylsuchende in der Schweiz leben, hängen an einem hauchdünnen Faden. Vor zwei Jahren wurde ihr Asylgesuch bereits ein erstes Mal abgelehnt und es wäre beinahe zu einer zwangsweise Ausschaffung gekommen: Eines Morgens stürmten Polizisten ihr Zimmer und führten sie und ihre Mutter in Handschellen ab. Hätte nicht ihre Mutter in dem Augenblick, da man sie ins Flugzeug zu schieben versuchte, übermenschliche Kräfte entwickelt und es den drei Polizisten verunmöglicht, sie durch den Eingang ins Flugzeug hindurchzuzwängen, wären sie heute nicht mehr in der Schweiz. Seit der erfolglosen Abschiebung liegt der Fall nun beim Bundesverwaltungsgericht. Sollte das Gericht den negativen Asylentscheid bestätigen, droht erneut die zwangsweise Rückschaffung, dann aber auf der sogenannten Stufe zwei, was bedeutet, dass nicht nur drei, sondern etwa zehn Polizisten aufmarschieren werden und die Mutter und das Kind am ganzen Körper so eng gefesselt werden, dass Widerstand nicht mehr möglich ist. Hat das Mädchen aus Angola nicht schon dermassen viel Schlimmes erlebt, dass man eigentlich erwarten müsste, nun einen völlig aggressiven, gewaltbereiten Menschen vor sich zu haben? Doch genau das Gegenteil ist der Fall! Die 15Jährige hat trotz allem die Hoffnung nicht aufgegeben, mit ihrer Mutter dauerhaft in der Schweiz bleiben zu können. Sie möchte einen Beruf erlernen, mit dem sie andere Menschen glücklich machen könne. Wenn sie andere Menschen fröhlich machen und sie zum Lachen bringen könne, das sei für sie das Schönste, mehr brauche sie nicht, um glücklich zu sein. Woher nur kann bei so viel erlittenem Hass und so viel erlittener Gewalt so viel Liebe kommen? Gibt es vielleicht so etwas wie eine unbegreifliche innere Kraft des Guten im Menschen, die sich auch unter widrigsten Umständen dennoch im Verlaufe des Lebens nach und nach durchzudrücken vermag?
Ich selber habe, im Gegensatz zu Urbaniok, zwar keine wissenschaftlichen Studien vorzuweisen. Aber immerhin Berufserfahrung von 38 Jahren als Oberstufenlehrer von insgesamt über all die Jahre wohl an die tausend ganz unterschiedlichen Jugendlichen. Mein Befund ist zu 100 Prozent: Ich hatte bei keinem einzigen dieser jungen Menschen je den Eindruck, es versuchte von „unten“ etwas Schlechtes, sich im Laufe der Zeit mehr und mehr „durchzudrücken“. Nein, wenn etwas Schlechtes sich durchzudrücken versuchte, kam es nie von „unten“, sondern stets von „aussen“ oder von „oben“, in Form überrissener Strafen oder anderer Disziplinarmassnahmen durch Lehrpersonen, übertriebener, nicht erfüllbarer Erwartungen seitens der Eltern, Verlust an Selbstvertrauen durch das permanente Verglichenwerden mit den Mitschülerinnen und Mitschülern in Form von Prüfungen, Noten, Zeugnissen oder Diskriminierung und Stigmatisierung infolge von in diesem Alter ganz natürlichen, aber gesellschaftlichen nicht akzeptierten Verhaltensweisen. Die Schlussfolgerung ist eigentlich ganz banal: Wenn ich in den Menschen vor allem das Gute sehe, dann wird das Gute immer stärker, ebenso wie das „Schlechte“ immer stärker wird, wenn ich in den Menschen in erster Linie das Schlechte sehe.
Immer klarer wird mir, woher mein Unbehagen während des Vortrags von Frank Urbaniok gekommen war: Genau von daher, dass er keinen Unterschied macht zwischen Individualgewalt, die von einzelnen „Übeltätern“ oder „Bösewichten“ verübt wird, und der weitgehend unsichtbaren Systemgewalt, die doch das eigentliche Grundübel ist und den Menschen daran hindert, so zu werden, wie er eigentlich von Natur aus „gedacht“ war.
Im Gratisblatt „20minuten“ vom 21. Februar 2025 lese ich ein Interview mit Frank Urbaniok zur Frage, wie mit gewalttätigen Asylsuchenden umzugehen sei. Nur schon der Titel des Interviews ist mehr als tendenziös: „Endlich über Schattenseiten sprechen“ – als würden die meisten Menschen nicht sowieso schon am meisten und am liebsten über „Negatives“ sprechen und sich darüber aufregen, statt über möglichst viel „Positives“ zu sprechen und sich darüber zu freuen. Urbaniok behauptet, es sei „kein Zufall“, dass bei Delikten häufig Asylsuchende die Täter seien. Er erwähnt, dass zum Beispiel Afghanen bei „schweren Gewaltdelikten“ mit „554 Prozent überrepräsentiert“ seien. Tönt, als würden Afghanen 554 Prozent aller schweren Straftaten begehen, was allein schon aus mathematischen Gründen ziemlich schwierig sein dürfte, aber halt schon ziemlich krass tönt. Tatsächlich meint er, dass auf 100’000 Schweizer 100 ein Gewaltdelikt begehen, auf 100’000 Afghanen aber 554. Woher Urbaniok diese Zahlen hat, bleibt schleierhaft, es wird keine Quelle genannt. Ich bin auf eine andere Zahl gekommen: Schaut man sich die Homepage der SVP an, wo täglich akribisch sämtliche auch noch so geringfügige, von Asylsuchenden begangene Delikte aufgelistet werden, findet man, in Bezug auf Afghanen, beispielsweise im ersten Halbjahr 2023 gerade mal zwei schwere Delikte und zehn zumeist ziemlich harmlose wie zum Beispiel Telefonbetrügereien, und dies bei einer Gesamtzahl von zurzeit etwa 35’000 in der Schweiz lebenden Afghaninnen und Afghanen. Urbaniok lässt sich hier auf das Niveau all jener herab, die lieber von zwei Afghanen sprechen, die im Laufe eines halben Jahres eine schwere Straftat begangen haben, als von den 34’988, die sich während des gleichen Zeitraums nicht eines einzigen Delikts schuldig gemacht haben. Mindestens müsste er als einigermassen seriöser Wissenschaftler zumindest darauf hinweisen, dass Menschen, die in ihrem bisherigen Leben so viel Leid erfahren haben, deren ganzes Land durch einen Krieg zerstört wurde, die zahllose engste Verwandte, oft ihre Eltern oder selbst ihre eigenen Kinder verloren haben und auch auf der Flucht, bis zu 7500 Kilometer zu Fuss, unsäglichen Gefahren, Entbehrungen und Todesängsten ausgeliefert waren, verständlicherweise eher zu einer verzweifelten Gewalttat neigen als Menschen, die ihr gesamtes bisheriges Leben lang gänzlich wohlbehütet und in einer sicheren Umgebung aufwachsen konnten. Doch kein Wort von alledem. Urbaniok nimmt auch unbesehen den unsäglichen Begriff der „Ausländerkriminalität“ in den Mund, der zwei Begriffe miteinander verknüpft, die nichts miteinander zu tun haben, aber unbewusst den Eindruck erweckt, jeder Ausländer sei ein potentieller Krimineller, während es keinem Menschen je in den Sinn käme, im Zusammenhang mit Delikten wie Steuerhinterziehung, Mietzinswucher oder irgendwelchen dubiosen Finanzgeschäften, die eher typisch sind für Einheimische, von „Inländerkriminalität“ zu sprechen.
Besonders aufschlussreich ist ein beinahe zweiseitiges Interview mit Urbaniok, das in der „Sonntagszeitung“ vom 23. Februar 2025 erschienen ist und in dem er den Zustand Deutschlands zur Zeit der zurzeit stattfindenden Bundestagswahlen unter die Lupe nimmt. Darin wirft er unter anderem der deutschen Justiz vor, stets den Opfern recht zu geben, nie den Opfern. Es gehe, so Urbaniok, nicht mehr um die „individuelle Schuld“, sondern nur noch um „Ideologie“. Mit „Ideologie“ meint er wohl nichts anderes als die mittlerweile in der Fachwelt weitherum anerkannte Praxis, bei jedem Verbrechen auch die Einflüsse des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfelds zu berücksichtigen, eine Erkenntnis, die ihm, der stets die Schuldhaftigkeit des einzelnen „Bösewichts“ in den Vordergrund stellt, freilich nicht gefällt. „Die Idee, man müsse nur die Waffen abschaffen, dann hätten wir Frieden, ist vollkommen naiv“, sagt er weiter, „genauso die Idee, man müsse nur besonders lieb sein miteinander, verhandeln und reden, dann komme es schon gut.“ Einerseits zieht er mit solchen Worten auch Methoden der Friedensförderung durch Dialog offensichtlich ganz bewusst ins Lächerliche, anderseits bleibt er die Erklärung schuldig, was denn aus seiner Sicht eine bessere Alternative zum „Verhandeln“ und „Reden“ wäre. Etwa der kompromisslos weitergeführte Krieg? Das getraut er sich dann aber wohl doch nicht zu sagen und so schweigt er lieber darüber. Im Folgenden ist zu lesen: „Es ist zwar eine sympathische Idee, dieses romantische Multikulti, dass sich alle lieb haben, vertragen, gleich sind und am selben Strick ziehen, doch es ist höchst einseitig und darum sehr unrealistisch.“ Wieder zieht er etwas, was ihm nicht gefällt, ins Lächerliche, und wieder äussert er sich mit keinem einzigen Wort darüber, was denn die Alternative zur Idee eines für alle Seiten möglichst fruchtbaren interkulturellen Zusammenlebens sein könnte. „Eine intelligente Migration“, so nachfolgend, „fördert das riesige Potenzial von Einwanderung, bekämpft aber gleichzeitig Schäden und Risiken.“ Im Klartext: Solange uns Migrantinnen und Migranten wirtschaftlich etwas bringen und für wenig Lohn die Drecksarbeit verrichten, die von den besser gebildeten Einheimischen schon längst gemieden wird, sind sie uns willkommen. Wenn sie aber mit „Schäden“, Verletzungen und Traumatisierungen zu uns kommen – an denen gerade im Fall von Afghanistan Deutschland durch seine Kriegsbeteiligung an der Seite der USA grösste Mitschuld trägt -, dann sollen sich gefälligst andere darum kümmern. Schliesslich geht Urbaniok sogar so weit, zu fordern, man dürfe vor härteren Massnahmen gegen missliebige Menschen auch dann nicht zurückschrecken, „wenn man dafür heute geltende Regeln ganz abschaffen oder ändern muss.“ Besonders interessant ist folgende Aussage: „Weil man die sogenannte kognitive Dissonanz vermeiden will, hat man ein bestimmtes Weltbild, und alles, was nicht reinpasst, wird ignoriert, weil es sonst unbequem wird.“ Besser als mit dieser Definition könnte Urbaniok wohl sich selber nicht beschreiben. In der Fachsprache der Psychologie nennt man so etwas eine klassische „Projektion“. Aber das müsste Urbaniok als einer der berühmtesten Psychiater Europas selber eigentlich am besten wissen…
Dass in der Öffentlichkeit die sichtbare, gut beschreibbare und durch die Medien stets emotional bestens aufbauschbare Individualgewalt im Vordergrund steht und die dahinter liegenden, weitgehend unsichtbaren und dennoch omnipräsenten Formen von Systemgewalt kaum je ernsthaft thematisiert und offen gelegt werden, wissen wir zur Genüge. Umso mehr wäre es die Aufgabe von Wissenschaftlern, genau diese Zusammenhänge aufzuzeigen. Denn wohin uns das Ausblenden und das Ablenken von der Systemgewalt auf die Individualgewalt geführt haben, müssten wir eigentlich nach Jahrhunderten von Kreuzzügen gegen Andersgläubige, Hexenprozessen, Judenverfolgung und zahlloser weiterer Verbrechen im Zuge von Rassismus, Fremdenhass und Diskriminierung ethnischer Minderheiten schon längst gelernt haben.
Zugegeben: Die Diskussion darüber, wie stark Gewalt in Form des herrschenden Gesellschaftssystems möglicherweise die eigentliche Ursache fast aller bei einzelnen Individuen auftretenden Formen von Gewalt bildet, ist viel aufwendiger, komplizierter und braucht weitaus mehr Zeit und Geduld, als mit dem moralischen Zeigefinger auf einzelne „Bösewichte“ und „Übeltäter“ wie renitente Jugendliche, ausrastende Sozialhilfebezüger, militante Klimaaktivisten oder potentiell kriminelle Flüchtlinge zu zeigen. Es braucht auch die Bereitschaft, bestehende Denkmuster radikal zu hinterfragen. Dann freilich könnte man wohl schon sehr bald einmal zum Schluss gelangen, dass etwa die Art und Weise, wie sich die Schweiz über Jahrhunderte dank Ausbeutung von Rohstoffen aus Ländern des Südens masslos bereichert hat und dies dies bis heute tut, oder die Tatsache, dass in einzelnen Unternehmen die am besten Verdienenden einen 300 Mal höheren Lohn haben als die am schlechtesten Verdienenden, oder die Verweigerung von Mindestlöhnen durch Arbeitgeberverbände, existenzbedrohende plötzliche Entlassungen infolge von unternehmerischer „Gesundschrumpfung“, entwürdigende Behandlung durch Vorgesetzte, massiver und stetig weiter zunehmender Leistungsdruck in den Schulen und die wie riesige Damoklesschwerter über allen hängenden Bedrohungen durch einen möglichen dritten Weltkrieg und die Zerstörung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen – dass all dies eben auch Formen von Gewalt sind, die man zwar nicht so deutlich als solche erkennen kann wie etwa eine Messerstecherei oder einen Bombenanschlag oder eine Schlägerei zwischen Jugendlichen, die aber in ihrer Gesamtheit unvergleichlich viel verheerendere und länger andauernde Auswirkungen haben.
Es wird durch seine eigene Biografie erklärbare und nachvollziehbare Gründe dafür geben, dass Urbaniok zu einem eher negativen oder zumindest „skeptischen“ Menschenbild gekommen ist und daher das „Böse“ vor allem im einzelnen Individuum sieht und nicht in herrschenden Machtsystemen . Man kann das verstehen und es soll ja auch niemandem verwehrt sein, sich im Laufe seines Lebens jenes Menschen- und Weltbild aufzubauen, das seinen eigenen Lebenserfahrungen am ehesten entspricht. Gefährlich wird es aber dann, wenn man einseitige Menschen- und Weltbilder so sehr verabsolutiert, dass sie am Schluss sozusagen als einzige mögliche „Wahrheit“ im Raum stehen. Denn wenn im Umfeld dominanter und meinungsbeherrschender „Koryphäen“ wie Urbaniok so etwas wie ein Vakuum entsteht, in dem keine Kontroversen und kein kritisches Denken mehr stattzufinden vermag, dann hört die Wissenschaft auf, wissenschaftlich zu sein, und droht selber zu einem Teil der Systemgewalt zu werden.