Fragwürdige Aussagen eines Universitätsprofessors über die “Naivität” der propalästinensischen Protestbewegung…

Den Gegnern propalästinensischer Proteste scheint jedes Mittel recht zu sein, diese in ein schiefes Licht zu rücken. So steht ein ganzseitiges Interview mit Johannes Saal, Religionssoziologe und Politikwissenschaftler an der Universität Luzern, im „Tagesanzeiger“ vom 18. Mai 2024 unter dem Titel „Viele junge Menschen sind sehr naiv“. Saal gesteht den jungen Menschen zwar „gute Absichten“ zu, tatsächlich aber seien die meisten von ihnen „sehr naiv“ und hätten sich noch nie ernsthaft „mit diesem Konflikt auseinandergesetzt“. Gerade diese „Unwissenheit“, so Saal, mache junge Menschen „für gewisse Narrative anfällig“.

Was für eine Anmassung, ist es doch wahrscheinlich gerade umgekehrt: Die allermeisten der in dieser Protestbewegung aktiven jungen Menschen sind sehr wohl über die Hintergründe des Nahostkonflikts informiert – im Gegensatz zur Mehrheit der älteren Bevölkerung, die über Jahrzehnte sehr einseitig nur aus der Sicht Israels informiert worden ist. So zum Beispiel haben 70 Prozent der deutschen Bevölkerung noch nie etwas von der Nakba, der systematischen und gewaltsamen Vertreibung des palästinensischen Volks aus seinem ursprünglichen Lebensraum ab 1948, gehört, eine entsprechende Umfrage in der Schweiz käme wohl zu einem ähnlichen Ergebnis.

Weiter sieht Saal einen wesentlichen Unterschied zwischen den Protesten gegen den Vietnamkrieg und den aktuellen Protesten gegen den Krieg in Gaza darin, dass der Vietnamkrieg „deutlich mehr zivile Opfer“ gefordert hätte. Als wären über 33‘000 zivile Opfer im Gazakrieg immer noch nicht genug, um in aller Deutlichkeit und Schärfe ein Ende dieses Verbrechens zu fordern. Was für ein zynisches Argument gegen eine Rechtfertigung der propalästinensischen Protestbewegung!

Zudem spricht Saal im Zusammenhang mit dem „Israel-Palästina-Konflikt“ von einem „asymmetrischen Konflikt“, weil in diesem „terroristische Organisationen wie die Hamas“ und ein „Staat“ gegeneinander kämpfen. Im Klartext: Etwas „Illegales“, nämlich eine Terrororganisation, kämpft gegen etwas „Legales“, nämlich gegen einen Staat. In einem Wisch wirft Saal sämtliche historischen Tatsachen über Bord: Dass man einen Staat, der aufgrund jahrzehntelanger illegaler Landnahme entstanden ist, wohl kaum als etwas „Legales“ bezeichnen kann. Dass man den Völkermord, den Israel derzeit am palästinensischen Volk im Gazastreifen begeht, ehrlicherweise genauso als „Terrorismus“ bezeichnen müsste. Und dass dieser Konflikt zwar tatsächlich „asymmetrisch“ ist, aber genau im entgegengesetzten Sinn, steht doch ein seit über 70 Jahren diskriminiertes, verfolgtes, entrechtetes und seiner existenziellen Grundlagen beraubtes Volk einem Staat gegenüber, der von der weltweit mit Abstand stärksten Militärmacht hochgerüstet worden ist. Und wie wenn das alles nicht schon genug wäre, wärmt Saal an dieser Stelle einmal mehr das Argument auf, dass man den „jetzigen Krieg“ auch als „Reaktion auf den Angriff vom 7. Oktober 2023“ sehen könne – offensichtlich reicht sein Gedächtnis nicht weiter zurück als bis zu diesem Datum.

„Ich bezweifle, dass diese Proteste grosse gesellschaftliche Transformationsprozesse in Gang bringen“, behauptet Saal weiter. Wiederum eine höchst willkürliche Aussage, die er dann damit begründet, dass diese Proteste auch auf „andere linke Anliegen“ wie „Klimabewegung, Rassismus, den feministischen Diskurs und sogar die Genderfrage ausgeweitet werden können“, um sich damit geradezu selber zu widersprechen, bildet doch genau diese zunehmende weltweite Vernetzung unterschiedlicher, aber letztlich für die gleichen humanitären Grundanliegen einstehenden Protestbewegungen den grössten Anlass zu Hoffnung, grosse gesellschaftliche Transformationsprozesse in Gang bringen zu können.

Saal scheint auch in hohem Masse lernresistent zu sein. Seit Monaten erklären selbst angesehenste jüdische Persönlichkeiten, unter ihnen nicht wenige Holocaust-Überlebende, dass Antisemitismus in Form einer Diskriminierung von Menschen jüdischer Abstimmung und die Kritik an der derzeitigen israelischen Regierungspolitik nichts miteinander zu tun haben und man ja dann, wenn es tatsächlich das Gleiche wäre, auch all jene Jüdinnen und Juden, welche die Politik des Netanyahu-Kabinetts kritisieren, ebenfalls als Antisemitistinnen und Antisemitisten bezeichnen müsste. Saal scheint nichts davon gehört zu haben und sagt, den propalästinensischen „Akteuren“ sei „eine ganz klar antizionistische Ausrichtung bis hin zum offenen Antisemitismus“ gemeinsam. Er suggeriert damit, dass es so etwas gibt wie einen fliessenden Übergang von einem zum andern, während sich jedoch in Tat und Wahrheit die allermeisten in der Protestbewegung Aktiven klar und deutlich von jeglichem Antisemitismus distanzieren.

Saal empfindet die „jetzigen Protestformen“ nicht zuletzt auch deshalb „grundsätzlich kritisch“, weil durch sie der „universitäre Ablauf gestört“ wird. Saal scheint noch nicht begriffen zu haben, dass die Zeiten, da sich die Wissenschaften aus allem, was mit Politik zu tun hat, herauszuhalten versuchen, hoffentlich für immer vorbei sind. Denn auch das angebliche „Heraushalten“ aus der Politik unter dem Vorwand scheinbarer „Neutralität“ und „Objektivität“ ist hochpolitisch, in dem Sinne nämlich, dass bestehendes Unrecht und bestehende gesellschaftliche Missstände und Fehlentwicklungen dadurch als unveränderbar und unbeeinflussbar hingenommen und damit zementiert werden.

Schliesslich schlägt Saal dem Fass noch das letzte Stück Boden aus, indem er eine „wehrhaftere Demokratie“ fordert und damit meint, dass man „politische Meinungen, die diametral zu unseren Grundwerten der freien, liberalen Gesellschaft stehen, klar und deutlich benennen und verurteilen“ müsse. Mit anderen Worten: Die sich für ein schnellstmögliches Ende des Völkermords im Gazastreifen engagierende weltweite Protestbewegung stehe im Gegensatz zu den Grundwerten einer freien Gesellschaft und müsse deshalb verurteilt werden. Da findet man kaum mehr Worte und kann sich nur fragen, was sich die Redaktionsmitglieder des „Tagesanzeigers“, immerhin einer der grössten und wichtigsten Schweizer Tageszeitungen, wohl gedacht haben mögen, als sie sich entschieden haben, Johannes Saal eine ganze Zeitungsseite zur Verfügung zu stellen, um so unausgegorene, widersprüchliche und von gefährlichen Vereinfachungen nur so strotzende „Weisheiten“ zu verbreiten.

Nicht die jungen Menschen, die sich an den propalästinensischen Protesten beteiligen, sind naiv. Wenn jemand naiv ist, dann ist es ein Universitätsprofessor, der nicht zur Kenntnis genommen hat, dass minimales Geschichtsbewusstsein auch bei weiten Teilen der älteren Bevölkerungsgruppe nur sehr mangelhaft vorhanden ist. Der 33‘000 Opfer des Gazakriegs durch den Vergleich mit den Opfern des Vietnamkriegs relativiert und damit verharmlost. Der das Machtverhältnis zwischen dem palästinensischen Volk und dem Staat Israel ins Gegenteil verkehrt. Der so tut, als hätte die Vorgeschichte des heutigen Konflikts am 7. Oktober 2023 begonnen und nicht schon 1948 mit der ethnischen „Säuberung“ Palästinas. Der ohne stichhaltige Begründung der propalästinensischen Protestbewegung nicht nur die Legitimität, sondern auch jegliche gesellschaftliche und politische Wirkung abspricht. Der mit dazu beiträgt, Antisemitismus und Kritik an der derzeitigen israelischen Regierungspolitik unzulässig miteinander zu vermischen. Der immer noch nicht begriffen hat, dass es höchste Zeit ist für die Wissenschaften, von ihrem Sockel vermeintlicher „Objektivität“ herunterzusteigen und sich in die Alltagspolitik einzumischen. Und der allen Ernstes die Forderung erhebt, Protestbewegungen wie jene gegen den Völkermord in Gaza seien im Namen der „Demokratie“ unmissverständlich zu verurteilen und, was er zwar nicht sagt, aber die logische Folge davon wäre, auch zu verbieten.