Flüchtlingspolitik muss endlich den Schritt machen von der Symptombekämpfung zur Ursachenbekämpfung

 

Seit zwei Monaten, so berichtet die “Sonntagszeitung” vom 20. November 2022, drängen wieder mehr Asylsuchende aus anderen Ländern als der Ukraine in die Schweiz, am meisten aus Afghanistan, der Türkei und Syrien. Allein im nördlichen Afrika und im östlichen Mittelmeer, so der Migrationsexperte Beat Stauffer, sei der Migrationsdruck in vielen Ländern enorm. Insbesondere die SVP kritisiere, dass die Schweiz viele Flüchtlinge aufnehme, die keinen Schutz bräuchten, sondern bloss “Wirtschaftsflüchtlinge” seien. Diese “Willkommenskultur”, so SVP-Nationalrätin Martina Bircher, sei mit dem schweizerischen Sozialstaat je länger je weniger vereinbar. Und selbst der ehemalige SP-Nationalrat Rudolf Strahm gäbe zu bedenken, dass das internationale humanitäre Recht keine Antwort hätte auf die Armutsmigration meist junger Männer, die “nicht persönlich und individuell an Leib und Leben bedroht sind.”

“Was alle angeht, können nur alle lösen”, sagte der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt. Genau so ist es. Das sogenannte “Flüchtlingsproblem”, das sind nicht einfach junge Männer aus Afrika, Syrien, Afghanistan oder der Türkei, die nach Westeuropa drängen. Es sind nicht einfach zusammengeflickte Boote auf dem Mittelmeer, Schlepperbanden oder frierende Kinder, Frauen und Männer an rumänischen oder polnischen Grenzzäunen. Das “Flüchtlingsproblem”, das hat in erster Linie mit dieser verheerenden Zweiteilung der Welt in Reich und Arm, Wohlstand und Elend, Überfluss und Hunger zu tun. Im einen Teil dieser zweigeteilten Welt hat sich über Jahrhunderte sagenhafter Reichtum angesammelt, im anderen Teil dieser zweigeteilten Welt hat sich gleichzeitig unsägliches Elend ausgebreitet. Und wie wenn diese koloniale Ausbeutung nicht schon genug wäre, sind ausgerechnet zahlreiche der ärmeren Länder immer wieder von verheerendem Krieg betroffen, welcher einst so blühende Länder wie Afghanistan oder Syrien in Schutt und Asche gelegt und den Menschen jegliche Lebensgrundlage entzogen hat – alles im Fadenkreuz geopolitischer Grossmachtinteressen und unter eifriger und äusserst profitabler Beteiligung von internationalen Rüstungskonzernen. Aber auch damit noch nicht genug: Auch von den Folgen des Klimawandels, der zum allergrössten Teil von den reichen Ländern des Nordens verursacht wird, sind vor allem die ärmeren und südlicheren Länder in dieser zweigeteilten Welt am allermeisten betroffen. Schon heute sind weite Landstriche im Süden infolge von Überhitzung und Wassermangel unfruchtbar geworden – die soeben zu Ende gegangene Weltklimakonferenz in Sharm al-Sheik hat gezeigt, wie schwer sich die Länder des Nordens tun, um nur wenigstens einen winzigen Teil des von ihnen angerichteten Schadens wieder gutzumachen. Wenn Menschen aus dem Süden in den Norden fliehen, dann ist es nicht so, dass sie uns widerrechtlich etwas wegzunehmen versuchen, wogegen wir uns wehren müssten. Im Gegenteil: Diese Menschen wollen sich bloss einen winzigen Teil dessen zurückholen, was ihnen von uns, den reicheren Ländern des Nordens, geraubt worden ist, durch koloniale Ausbeutung, durch Kriege, durch den Klimawandel.

“Was alle angeht, können nur alle lösen.” Die Grenzen dicht zu machen, ist reine Symptombekämpfung. Sie löst das Problem nicht, macht alles nur noch schlimmer. Bis so viele Millionen an unseren Grenzen stehen werden, dass auch unsere noch so hochgerüsteten Grenzschutzeinheiten nicht mehr in der Lage sein werden, das Problem im Griff zu behalten. Stattdessen geht es darum, die tatsächlichen Ursachen zu bekämpfen, jeglicher Ausbeutung ein Ende zu setzen, alle Güter des täglichen Bedarfs, Einkommen und Vermögen weltweit gerecht zu verteilen, Kriege für immer abzuschaffen und so radikale Klimaschutzmassnahmen zu ergreifen, dass sich die Erde nach und nach wieder erholen kann.

“Flüchtlingsströme”, die uns zunehmend “bedrohen”, sind ein Alarmzeichen dafür, dass wir in einer krank gewordenen Welt leben. Und so wie man eine Krankheit nicht heilen kann, solange man nur die Symptome bekämpft und nicht auch die Ursachen, solange kann auch das Ganze nicht gesund werden. Das Weinen in der Nacht, als das eigene Dorf bombardiert wurde, das Weinen des hungernden Kindes, das Weinen der Menschen auf der Flucht – es ist alles das gleiche Weinen, der gleiche allesdurchdringende Schrei, die gleiche endlose Sehnsucht nach einem Leben in Glück, Frieden und Gerechtigkeit. Man möchte an dieser Stelle gerne den Begriff der “Willkommenskultur” aufgreifen. Ja. Jedes Kind sollte, wo und wann es geboren wird, genau an diesem Ort und zu dieser Zeit auf dieser unserer gemeinsamen Erde gleichermassen willkommen sein. Denn kein Mensch verlässt freiwillig seine Heimat, wenn er dort das gleiche gute Leben haben kann wie an irgendeinem anderen Ort der Welt.