Flüchtlingskrise an der griechisch-türkischen Grenze: Europa in der Schockstarre

Die Inszenierung war perfekt. Sorgenvolle Blicke von EU-Kommissionschefin Ursula van der Leyen aus dem Helikopter nahe der Grenze, per Kurznachrichtendienst Twitter geliefert. Geschlossener Aufmarsch der EU-Spitze bei der Vorortbesichtigung, die Herren leger gekleidet. Zum Abschluss die gemeinsame Pressekonferenz unter der Ägide des griechischen Regierungschefs Kyriakos Mitsotakis. Und der gab gleich den Ton vor. Es sei seine Pflicht, die Souveränität Griechenlands zu verteidigen, sagte er. Die griechischen Sicherheitskräfte leisteten dabei auch Europa einen Dienst, schützten seine Aussengrenze. Ursula van der Leyen ihrerseits äusserte zwar Mitgefühl für die Migranten, sagte aber, Griechenland sei Europas “Schild”. Die Kommissionschefin stellte der Regierung in Athen zusätzliche finanzielle Unterstützung zur Abwehr der Flüchtlinge in Aussicht. Auch die EU-Grenzagentur Frontex solle mit mehr Flugzeugen und Personal helfen.

(Tages-Anzeiger, 4.März 2020)

Man kann dem türkischen Präsidenten Erdogan vorwerfen, er instrumentalisiere die syrischen Flüchtlinge, um von der EU weitere finanzielle Mittel abzufordern. Tatsache aber ist, dass bereits jetzt rund 4 Millionen Flüchtlinge in der Türkei Zuflucht gefunden haben und infolge der kriegerischen Auseinandersetzungen rund um Idlib Abertausende weitere folgen werden. Tatsache ist ebenfalls, dass Deutschland bis jetzt gerade mal etwas mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen hat, in den übrigen europäischen Ländern sind es noch weit weniger. Doch das mutige “Wir schaffen das!” der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in Anbetracht der Flüchtlingskrise von 2015 hören wir heute nicht mehr. An ihrer Stelle spricht die EU-Kommissionschefin Van der Leyen von Griechenland als dem europäischen “Schild”, dem Ort also, wo Europa seine Souveränität zu verteidigen habe – im Kampf gegen hungrige, kranke und verzweifelte Väter und Mütter und gegen Kinder, von denen Nacht für Nacht niemand weiss, ob sie infolge der eisigen Temperaturen am nächsten Morgen überhaupt noch erwachen werden. Europa scheint im Schockzustand zu sein. Zu gross ist die Angst der etablierten Parteien, im Falle einer umfangreichen Aufnahme neuer Flüchtlinge den rechtspopulistischen Kräften in die Hand zu spielen und diesen zusätzlichen Auftrieb zu geben. Doch was ist eine Demokratie wert, wenn es nur noch um Macht und Machterhaltung politischer Parteien und Regierungsverantwortlicher geht? Eine Demokratie braucht doch eine ethische Basis, eine Wertegrundlage, die durch nichts, auch nicht durch noch so extreme politische Kräfte, verletzt werden darf. Diese Wertegrundlage, das ist genau jenes “Wir schaffen das!”, von dem sich Angela Merkel offensichtlich inzwischen verabschiedet hat. Diese Wertegrundlage, das ist die Gerechtigkeit, die Menschlichkeit, die Fürsorge, die Liebe. Ja, die Liebe. Ohne Liebe ist Demokratie nichts wert. Denn ohne Liebe könnten auch 51 Prozent der Bevölkerung beschliessen, die übrigen 49 Prozent umzubringen. Was für ein Hoffnungszeichen, dass nun immer mehr Städte, dem Beispiel Berlins folgend, erklärt haben, zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit zu sein. Bleibt zu hoffen, dass viele weitere ihnen folgen werden. Und dass Angela Merkel ihre Stimme wieder erhebt. Und Ursula von der Leyen nie mehr von einem “Schild” spricht, wenn sie damit Griechenland meint. Und dass allenthalben darüber diskutiert, gestritten und gerungen wird, was Liebe und Politik miteinander zu tun haben sollten…