Flüchtlingsdrama an der kroatisch-bosnischen Grenze: Bilder, die man nicht mehr vergessen kann

 

Die “Rundschau” des Schweizer Fernsehens SRF strahlte am 6. Oktober 2021 eine erschütternde, in Zusammenarbeit mit der ARD und dem “Spiegel” produzierte Dokumentation über die so genannten “Push-Backs” von Migrantinnen und Migranten an der bosnisch-kroatischen Grenze aus. Bilder, die kaum zu ertragen sind: Flüchtlinge, die von kroatischen Sicherheitskräften in Kleinbussen herangekarrt und dann mit Schlagstöcken über die Grenze zu Bosnien getrieben werden – die Schreie der Geprügelten gehen durch Mark und Bein, die Brutalität der kroatischen Polizisten kennt keine Grenze. “Es gab Fälle”, berichtet ein im Film interviewter bosnischer Grenzpolizist, “da haben sie ganze Gruppen dermassen zusammengeschlagen, dass alle von ihnen ins Krankenhaus mussten. Und im Winter habe ich Menschen getroffen, ohne Schuhe, durchfroren, nass, weinende Frauen und Kinder, Familienväter mit gebrochenen Beinen und Armen.” Kroatien gehe nicht freiwillig so hart gegen Flüchtlinge vor, sagt Ranko Ostojić, ehemaliger Polizeiminister Kroatiens, und wahrscheinlich hat er sogar Recht. Kroatien, so Ostojić, erledige bloss die Drecksarbeit für die EU. Und diese Drecksarbeit lässt sich die EU auch einiges kosten: Seit 2015 erhielt Kroatien von der EU für das so genannte “Migrationsmanagement” nicht weniger als 163 Millionen Euro, mitfinanziert auch von der Schweiz. Das ist der Preis, den wir dafür bezahlen, dass wir uns dann hier, fern von der EU-Aussengrenze, in der Illusion wiegen können, wir hätten alles im Griff, fernab von den Schreien geprügelter Flüchtlinge, fernab von Kindern ohne Schuhe mitten im Winter und fernab von afghanischen, syrischen und irakischen Familienvätern mit gebrochenen Beinen und Armen. Oder, wie es die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel formulierte: “Kroatien leistet eine hervorragende Arbeit mit seinen Sicherheitskräften, das will ich ausdrücklich würdigen.” Und auch das Staatssekretariat für Migration in Bern beschönigt: Die Schweiz könne ihre Mittel für das “Migrationsmanagement” in Kroatien nicht beeinflussen, sie setze sich aber im politischen Dialog für die Einhaltung der Menschenrechte ein. An dieser Stelle endet die Reportage der “Rundschau”. Doch eine wesentliche Frage bleibt offen: Was wäre denn die Alternative? Sollte man all die Hunderttausenden Menschen aus Afghanistan, Syrien, aus dem Irak und Afrika einfach über die Grenzen der EU hereinlassen? Wären faire Asylverfahren eine Lösung? Wie aber würde man dann mit jenen Flüchtlingen umgehen, die kein glaubhaftes Recht auf Asyl vorweisen könnten? Und was wären dann die Kriterien für einen positiven Asylentscheid, nur Krieg und Verfolgung oder auch Hunger, Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Not? Auf die eine oder andere Art wäre dies alles stets reine Symptombekämpfung. Die eigentliche Ursache des Problems, nämlich weshalb Menschen ihre Heimat verlassen, um sich an einem anderen Ort ein besseres Leben zu erhoffen, wäre damit nicht gelöst. Nun, was für Möglichkeiten gäbe es, um statt der Symptome die eigentlichen Ursachen der Migration zu bekämpfen? Im Folgenden vier Vorschläge, bei denen die Schweiz als neutrales Land mit ihrer humanitären Tradition und einer jahrzehntelangen Erfahrung in Diplomatie und Konfliktvermittlung eine führende Rolle übernehmen könnte: ein globales Abkommen für garantierte Nahrungsmittel- und Rohstoffpreise, eine massive Erhöhung der “Entwicklungshilfe”, weltweite Abrüstung und Ächtung sämtlicher Waffen sowie rasche und effiziente Massnahmen für den Klimaschutz. Erstens ein globales Abkommen für garantierte Nahrungsmittel- und Rohstoffpreise: Ein wichtiger Grund für die wirtschaftliche Not zahlreicher armer Länder des Südens und damit auch einer der Fluchtgründe liegt in den viel zu niedrigen Preisen für Nahrungsmittel und Rohstoffe, welche in die reichen Industrieländer exportiert, dort verarbeitet, gehandelt und zum Vielfachen des Ankaufspreises wieder verkauft werden. Ein globales Abkommen für garantierte Nahrungsmittel- und Rohstoffpreise würde den Produzentinnen und Produzenten ein gesichertes Einkommen verschaffen und sie wären nicht mehr gezwungen, sich mit möglichst tiefen Preisen auf dem Weltmarkt im Konkurrenzkampfs mit anderen Produzentinnen und Produzente zu behaupten. Zweitens eine massive Erhöhung der “Entwicklungshilfe”. Wenn man bedenkt, dass die Schweiz im Handel mit “Entwicklungsländern” 48mal so viel erwirtschaftet, wie sie diesen Ländern in Form von “Entwicklungshilfe” wieder zurückgibt, so ist das weniger als ein Tropfen auf den heissen Stein – eine massive Erhöhung der “Entwicklungshilfe” wäre eigentlich längst schon eine Selbstverständlichkeit. Drittens weltweite Abrüstung und Ächtung sämtlicher Waffen. Dies wäre wohl einer der wichtigsten Schritte hin zu einer Welt, in der Menschen nicht mehr gezwungen wären, das Land, wo sie geboren wurden, zu verlassen. Die meisten Flüchtlinge, die gegenwärtig in Europa Asyl suchen, stammen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak, Ländern also, die teilweise über Jahrzehnte von kriegerischen Auseinandersetzungen heimgesucht worden sind. Welches Land, wenn nicht die Schweiz als Geburtsstätte von Henri Dunant, dem Begründer des Roten Kreuzes, wäre besser berufen, um eine weltweite Bewegung für Abrüstung und Ächtung sämtlicher Waffen ins Leben zu rufen? “Nie wieder Krieg!” forderte im Jahre 1924 die Friedensaktivistin Käthe Kollwitz. Die Botschaft ist heute dringender denn je, wenn wir an das gewaltige Arsenal von weltweit stationierten Atomwaffen denken, welche die Menschheit gleich mehrfach vernichten könnten. Weltweite Abrüstung und Ächtung aller Waffen würde für einmal nicht einmal etwas kosten, sondern im Gegenteil Unsummen von Geld freimachen für sinnvolle, zivile Projekte. Die Lösung politischer Konflikte mit militärischen Mitteln wäre damit überwunden, an ihre Stelle würde die gewaltlose, diplomatische Konfliktlösung treten. Dass die Schweiz gerade auf diesem Gebiet bereits heute eine vorrangige Rolle spielt, hat sich dieser Tage beim Treffen zwischen Jake Sullivan, dem Nationalen Sicherheitsberater von US-Präsident Biden, und dem chinesischen Spitzendiplomaten Yang Jiechi in Zürich wieder gezeigt. Viertens rasche und effiziente Massnahmen für den Klimaschutz. Keine Frage, dass, wenn wir zu spät handeln, die ganz grossen Migrationsströme erst noch auf uns zukommen werden. Alle, die sich heute gegen einschneidende Massnahmen für einen wirksamen Klimaschutz stark machen, gleichzeitig aber eine harte Asylpolitik und grösstmögliche Abschreckung von Migrantinnen und Migranten verfechten, müssen sich den Vorwurf einer immensen Illusion und Realitätsverweigerung gefallen lassen. Ein globales Abkommen für garantierte Nahrungsmittel- und Rohstoffpreise, eine massive Erhöhung der “Entwicklungshilfe”, weltweite Abrüstung und Ächtung sämtlicher Waffen sowie rasche und effiziente Massnahmen für den Klimaschutz – dies sind nur vier Vorschläge, doch sie würden schon sehr, sehr viel bewirken. Visionen, Aufbruch und Mut zu Neuem könnte schweizerische Wirtschafts- und Aussenpolitik geradezu beflügeln und der ganzen Welt ein Beispiel geben. Worauf warten wir noch?