Feminismus: Auf halbem Wege stehen geblieben?

Florentina Holzingers “Ophelia’s Got Talent” feiert, so der “Tagesanzeiger vom 10. November 2023, einen globalen Theatererfolg, gleichermassen gefeiert von Publikum und Kritik, ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, eingeladen zu grossen Festivals und nun an zwei Abenden auch im Theaterhaus Gessnerallee in Zürich zu sehen. Die Choreographin und Theatermacherin arbeitet ausschliesslich mit weiblichen Darstellerinnen, pusht mit ihren Bühnenarbeiten das Publikum gemäss Pressestimmen fast immer “zum Äussersten” und ihre Performerinnen, die allesamt hüllenlos auftreten, fast immer an die Schmerzgrenze. So etwa wird im Stück “Tanz” unter anderem eine Performerin mit einem über Rollen geführten Seil in die Höhe getrieben – mit Ösen, die zuvor ins nackte Rückenfleisch der Performerin getrieben wurden. So werde, wie der “Tagesanzeiger” schreibt, “der sexualisierte Blick auf den nackten weiblichen Körper mehrfach gebrochen”, weshalb solche Szenen oft als “feministische Kunst” beschrieben würden. Die Theaterszene, die in den letzten Jahren “unter Verkopfung gelitten” habe, erlebe durch solche Inszenierungen, was für eine “utopische Kraft” sie haben könnte, wenn sich der “Feminismus mit all seinen Forderungen vollständig durchsetzen würde”. Was allerdings an diesem Projekt “feministisch” sein soll, ist wohl nur schwer nachzuvollziehen – ausser dass sämtliche Beteiligte von der Choreographin und Theatermacherin bis zu den Darstellerinnen ausschliesslich weiblich und Männer nur in der Rolle von Zuschauern beteiligt sind.

Auch im Zusammenhang mit der Fernsehshow “Naked Survival”, welche regelmässig auf verschiedenen privaten TV-Sendern ausgestrahlt wird, könnte man, wenn es auf den ersten Blick auch noch so weit hergeholt zu sein scheint, von einem Erfolg des “Feminismus” sprechen, dürfen sich nun doch auch Frauen, die in so harten Mutproben früher kaum je zu sehen waren, Seite an Seite “gleichberechtigt” mit Männern zum prickelnden Vergnügen des Fernsehpublikums splitternackt durch gefährliche Dschungelgebiete oder glühendheisse Wüstenlandschaften hindurchkämpfen, von Giftschlangen, schmerzhaften Insektenstichen, Hunger, Durst und Übermüdung infolge schlafloser Nächte bei klirrender Kälte gequält. Auch an zahlreichen sportlichen Wettkämpfen, die früher ausschliesslich Männern vorbehalten waren, dürfen heute Frauen gleichberechtigt teilnehmen, sich wie Männer “gleichberechtigt” im Boxkampf gegenseitig die Köpfe einschlagen, sich im Velorennen “gleichberechtigt” bis an die Grenzen der körperlichen Belastbarkeit oder darüber hinaus über die höchsten Alpenpässe quälen, sich “gleichberechtigt” bei Skirennen in immer höherem Tempo auf immer gefährlicheren Pisten tödlicher Gefahr aussetzen oder sich “gleichberechtigt” im Triathlon und bei Marathonläufen so sehr verausgaben, bis sie, im Ziel angekommen, zu Tode erschöpft zusammenbrechen.

Auch ein Blick in die Welt der Politik zeigt, dass “Feminismus” offensichtlich nicht selten darin besteht, dass Frauen vermehrt Positionen einnehmen, welche früher ausschliesslich von Männern besetzt wurden. So etwa ist Viola Amherd die erste weibliche Verteidigungsministerin der Schweiz – allerdings ohne dass sich ihre politische Arbeit grundsätzlich von jener ihrer Vorgänger unterscheiden würde. Noch krasser wird es, wenn wir nach Deutschland blicken, wo mit Analena Baerbock als Aussenministerin und Agnes Strack-Zimmermann als verteidigungspolitischer Sprecherin der FDP zwei Frauen ausserordentlich machtvolle und einflussreiche politische Ämter innehaben, welche früher ausschliesslich Männern vorbehalten waren. Baerbock und Strack-Zimmermann sind indessen nicht nur Speerspitzen eines politischen “Feminismus”, sondern gehören gleichzeitig zu den schärfsten Hardlinern in der aktuellen deutschen Tagespolitik und vertreten Positionen, welche kriegerisch-patriarchalischer gar nicht sein könnten, ganz getreu ebenso kriegerisch-patriarchalen Vorbildern wie der britischen Premierministerin Margaret Thatcher, genannt “Eiserne Lady”, welche innerhalb weniger Jahre eine knallharte neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik vorantrieb und für die Privatisierung von Staatsunternehmen, die Schwächung der Gewerkschaften und die Flexibilisierung von Arbeitsmarktgesetzen mit insgesamt katastrophalen Folgen verantwortlich war, oder der früheren US-Aussenministerin Madeleine Albright, welche sich in den Neunziger Jahren an vorderster Front für Wirtschaftssanktionen gegen den Irak einsetzte, welche den Tod von einer halben Million Kinder zur Folge hatten, was Albright selbst noch Jahre später mit der zutiefst menschenverachtenden Aussage zu rechtfertigen versuchte, politisch gesehen aus der Sicht der USA sei es der Preis, den diese Kinder gezahlt hätten, “durchaus wert gewesen”.

Doch wir müssen gar nicht so weit gehen. Wenn wir einen Blick in die Veränderungen innerhalb der schweizerischen Arbeitswelt im Verlaufe der vergangenen Zeit werfen, stellen wir fest, dass sich immer mehr Frauen, die sich früher vollumfänglich der Kinderbetreuung und der Hausarbeit gewidmet hatten, heute an einer Kasse im Supermarkt oder als Kellnerin in einem Café arbeiten, ihre Kinder während dieser Zeit von Kitaangestellten betreuen lassen oder in wachsender Zahl sogar gänzlich darauf verzichten, überhaupt noch Kinder zu haben, ist doch die Teilhabe am kapitalistischen Arbeitsmarkt viel lukrativer und erst noch mit weit grösserer gesellschaftlicher Anerkennung verbunden.

Keine Frage, die Emanzipationsbewegung der Frauen hat zahlreiche wesentliche gesellschaftliche Fortschritte gebracht, auf die heute niemand mehr verzichten möchte, von der politischen und rechtlichen Gleichstellung, dem geschlechterunabhängigen Zugang zu Bildung über die Überwindung traditioneller geschlechtsspezifischer Rollenbilder und Lebensläufe bis hin zur körperlichen und sexuellen Selbstbestimmung und zur Einführung von Gesetzen gegen Sexismus und sexuelle Gewalt.

Und dennoch ist kritisch festzustellen, dass Feminismus über weite Strecken auch darin besteht, dass Frauen vermehrt – sowohl als Opfer wie auch als Täterinnen – in die bestehende kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung hineingewachsen sind, ohne dass sich dadurch deren Macht- und Ausbeutungsstrukturen wesentlich verändert hätten, denn wenn heute Frauen immer öfters in die früheren Rollen der Männer hineinschlüpfen, sie gar auf den Leitern des sozialen Aufstiegs zu übertreffen versuchen und beispielsweise auf den Chefetagen von Grosskonzernen immer mehr Frauen anzutreffen sind, während die Angestellten weiterhin schamlos ausgebeutet werden, dann ist insgesamt kein wirklicher gesellschaftspolitischer Fortschritt zu erkennen.

So könnte man zusammenfassend sagen, dass der Feminismus, der ursprünglich aufs Engste mit der Vision einer Welt ohne Macht- und Ausbeutungsverhältnisse, ohne Fremdbestimmung, ohne Gewalt und ohne Kriege als Instrument der Konfliktlösung zwischen Völkern und Staaten verbunden war, sozusagen auf halbem Wege stehen geblieben ist und sich, etwas überspitzt gesagt, vom kapitalistischen Macht- und Ausbeutungssystem über den Tisch hat ziehen lassen. Eine Bewegung, die zu einer radikaleren Umgestaltung der bestehenden Macht- und Ausbeutungsverhältnisse führen will und vor allem auch die globale Dimension nicht ausser Acht lassen darf, muss über den traditionellen Feminismus weit hinausgehen und die Männer miteinbeziehen. Frauen müssen sich nicht vor allem von den Männern emanzipieren, sondern Frauen und Männer müssen sich gemeinsam von den bestehenden kapitalistischen Macht- und Ausbeutungsverhältnissen emanzipieren. Ziel sollte nicht die Vermännlichung der Frauen sein, sondern die Verweiblichung der Gesellschaft als ganzer. Denn, wie der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt so wunderbar sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”