Extinction Rebellion – Was ist schon “normal” in einer verrückten Welt?

 

Rund 100 Aktivistinnen und Aktivisten der Gruppe Extinction Rebellion (XR) blockieren am 5. Oktober 2021 die Rudolf-Brun-Brücke in Zürich. Später besetzen Demonstrierende auch die Kreuzung Urania-/Bahnhofstrasse. Die Polizei stellt den Demonstrierenden ein Ultimatum, dem keine Folge geleistet wird. Schliesslich trägt die Polizei sie einzeln weg. Kurz nach 13.30 Uhr ist die Blockade bei der Rudolf-Brun-Brücke aufgelöst. Aufwendiger gestaltet sich die Räumung an der Kreuzung Urania-/Bahnhofstrasse. Dort müssen Höhenretter von Schutz & Rettung zwei Aktivistinnen von einem Holzgerüst herunterholen, an das sie sich angekettet haben. Um 14.30 Uhr ist die Blockade aufgelöst, Dutzende von Aktivistinnen und Aktivisten in polizeilichen Gewahrsam überführt, der Verkehr kann wieder rollen… Rasch wären genug Argumente zur Hand, um solche Aktionen in Bausch und Bogen zu verurteilen: Den Aktivistinnen und Aktivisten gehe es bloss darum, mediales Aufsehen zu erregen, konkrete Lösungsvorschläge suche man vergebens. Die Strassenblockaden würden bei den Autofahrern und Autofahrerinnen, die wichtige Termine einhalten und rechtzeitig am Arbeitsplatz sein müssten, nur Ärger, Stress und Unverständnis auslösen. Solche Aktionen würden bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht gut ankommen und nichts dazu beitragen, mehr Menschen für die Ziele der Klimabewegung zu gewinnen. Doch so einfach sollten wir es uns mit einer Verurteilung der Aktionen von Extinction Rebellion nicht machen. Ich jedenfalls bewundere das Engagement, den Mut und die Beharrlichkeit der Aktivistinnen und Aktivisten von Extinction Rebellion, die sich auch mit unkonventionellen Mitteln einem System entgegenstellen, das allein dem materiellen Profit zuliebe auf eine andauernde und sogar immer noch weiter wachsende Ausbeutung von Mensch und Natur ausgerichtet ist. Es ist ein Schrei der Verzweiflung, Ausdruck einer umfassenden Hilflosigkeit, Enttäuschung darüber, dass die riesigen weltweiten Demonstrationen der Klimastreiks bis jetzt so wenig erreicht haben. Angesichts dieser Situation gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder ein Rückzug in die Lethargie oder ein wildes Durchbrechen aller Normalität. Mir kommt Antigone in den Sinn, die Tochter des griechischen Königs Kreon, die gemäss einer Legende ihren bei Kreon in Ungnade gefallenen Bruder eigenhändig bestattete, obwohl Kreon ihr dies ausdrücklich verboten und ihr sogar mit dem Tode gedroht hatte. Entgegen aller Vernunft folgte Antigone einzig und allein ihrem Gewissen. Und so tun es auch die Aktivistinnen und Aktivisten von Extinction Rebellion. In einer Welt, in der das Verrückte normal geworden ist, tun sie das “Abnormale” und stellen damit alles auf den Kopf. Denn was ist schon “normal”? Ist es “normal”, wenn sich Abertausende Autos durch Städte wälzen, in denen alles immer enger wird und die Kinder fast keinen Platz mehr finden um zu spielen? Ist es “normal”, zwei Mal im Jahr auf die Malediven oder Teneriffa zu fliegen, um dort die Ferien zu verbringen? Ist es “normal”, jeden Tag Fleisch zu essen? Ist es “normal”, Kleider zu kaufen, die man eigentlich gar nicht braucht und die man am nächsten Tag wieder fortwirft? Ist es “normal”, dass ein paar Tausende Milliardäre so viel Vermögen besitzen wie der Rest der Welt? Ist es “normal”, wenn in gewissen Ländern bis zu einem Drittel der gekauften Lebensmittel wieder fortgeworfen werden, während sich weltweit eine Milliarde Menschen nicht einmal eine einzige Mahlzeit pro Tag leisten können? Oder ist es vielleicht nicht doch eher normal, auf einer Strasse zu sitzen, Lieder von einer anderen Welt zu singen, Gedanken über die Zukunft auszutauschen, Bescheidenheit, Demut und ein Leben im Einklang mit der Natur zu fordern? Extinction Rebellion und alle anderen Aktivistinnen und Aktivisten der Klimabewegung und der Klimastreiks bieten uns die einmalige Chance, eine neue Sprache kennenzulernen: die Sprache des Widerstands, der Rebellion, der Hoffnung auf eine andere Welt. Es ist eine Frage des Überlebens auf einem Planeten, der so schön sein könnte, wenn das, was heute als “verrückt” gilt, wieder “normal” wäre und umgekehrt. Übrigens: Nicht der machtgierige Kreon ist in die Geschichte eingegangen, sondern seine Tochter Antigone, deren Gewissen und deren Liebe so stark waren, dass sie gar nicht anders konnte, als die ganze Welt auf den Kopf zu stellen.