Evergrande – ein kapitalistisches Lehrstück gefährlicher Tragweite

 

Der zweitgrösste chinesische Immobilienentwickler Evergrande, so berichtet der “Tagesanzeiger” am 21. September 2021, ist mit 315 Milliarden Dollar verschuldet. Die drohende Pleite hat weltweite Auswirkungen und schürt die Angst vor einer neuen Finanzkrise. Betroffen wären nicht nur die 3,8 Millionen Angestellten, deren Jobs indirekt von Evergrande abhängen, sondern auch die Kurse global tätiger Banken, unter anderem der schweizerischen Finanzinstitute CS und UBS. Voraussichtlich hätte eine Pleite von Evergrande auch ein sinkendes Wirtschaftswachstum von China zur Folge. Dies wiederum hätte Auswirkungen auf die Rohstoffpreise und würde zahlreiche Schwellenländer in Not bringen, deren finanzielle Lage stark von den Rohstoffpreisen abhängig ist. Ein schwächeres Wachstum Chinas hätte insbesondere auch für Deutschland negative Konsequenzen: Für das Exportland Deutschland ist China der wichtigste Handelspartner. Eine Schwächung Deutschlands wiederum hätte negative Auswirkungen auf die Schweiz. Die auf der Titelseite des “Tagesanzeigers” publizierte Karikatur zeigt hintereinander aufgestellte Dominosteine. Der erste ist Evergrande. Kippt dieser, dann kommt es zu einer Kettenreaktion und der Reihe nach kippen auch alle übrigen Steine. Ein anderes Bild wäre eine Kette, die auseinanderbricht, sobald ihr schwächstes Glied reisst. Man muss nicht viel von Ökonomie verstehen um zu sehen, dass hier offensichtlich alles aus den Fugen geraten ist. Nur schon damit angefangen, dass beim Handel mit Immobilien derart astronomische Summen im Spiel sein können, wo doch, nüchtern betrachtet, Wohnen und Wohnungsbau zu den Grundbedürfnissen der Menschen gehören und am vorteilhaftesten gemeinnützig oder genossenschaftlich organisiert sein müssten, fern jeglichen Gewinnstrebens und fern jeglicher Spekulation. Aber eben, wenn man so tief im kapitalistischen Dickicht festgefahren ist, sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr, kann sich etwas anderes gar nicht mehr vorstellen und sieht noch in den grössten Absurditäten etwas “Normales”. Auch die Tatsache, dass der globalisierte Kapitalismus, in dem alles weltweit miteinander verknüpft und verbunden ist, erregt höchstens noch ein kurzes Staunen, bevor wir wieder zu einer “Tagesordnung” zurückkehren, die, wenn man sie aus Distanz von einem anderen Planeten aus anschauen könnte, mindestens als der helle Wahnsinn erscheinen müsste. Welche unselige Macht hat uns eigentlich dazu gebracht, alles mit allem zu verknüpfen? Das ist, wie wenn man in allen Häusern einer Stadt vorsorglich genügend Benzin einlagern würde, damit, wenn eines der Häuser brennt, gleich alle anderen auch zu brennen beginnen. Viel vernünftiger wäre doch eine grösstmögliche Autonomie jedes einzelnen Unternehmens, jeder einzelnen Landesregion, jeder einzelnen Volkswirtschaft. Damit jeglicher Schaden möglichst begrenzt bleibt und sich nicht wie ein Lauffeuer landes- und weltweit ausbreiten kann. Die weltweite Verknüpfung von allem mit allem hat uns jeglichen ökonomischen Gestaltungswillen aus der Hand gerissen. Als würden wir von einer unsichtbaren Macht regiert, auf die wir jeglichen Einfluss verloren haben und der wir schicksalshaft ausgeliefert sind. Wir meinen, die althergebrachten Religionen überwunden zu haben, doch gleichzeitig haben wir nur eine neue Religion geschaffen, die Religion des globalisierten Kapitalismus, der wir von Brasilien bis Russland, von Südafrika bis Taiwan, von Kanada bis China zu Füssen liegen. Es bleibt uns nur übrig, wie gebannt auf unsere Bildschirme zu starren und die steigenden und fallenden Kurse zu verfolgen und zu hoffen, dass nur ja nichts wirklich Schlimmes passiert. Fast wünschte man sich, dass alle diese Absurditäten noch viel schlimmere Formen annehmen, bloss um uns die Augen dafür zu öffnen, noch rechtzeitig das Ruder herumzureissen und ein neues Zeitalter jenseits aller kapitalistischen Verrücktheiten Wirklichkeit werden zu lassen.