Es gibt nicht nur ein Bedürfnis nach Gesundheit. Es gibt auch ein Bedürfnis nach Gerechtigkeit.

 

Ich verstehe die Wut vieler Menschen. Während gutbetuchte Schweizer Rentnerinnen und Rentner an spanischen und portugiesischen Stränden Party feiern, werden in Zürich, Bern oder St. Gallen Jugendliche, die es einfach mal ein bisschen lustig haben wollen, von der Polizei auseinandergetrieben. Während sich Gutverdienende eine Übernachtung inklusive Nachtessen und Wellnessangeboten in einem Fünfsternehotel im Engadin oder im Berner Oberland leisten können, kann sich der Bauarbeiter nach neunstündiger Schufterei nicht einmal auf der Terrasse eines Restaurants sein wohlverdientes Feierabendbier genehmigen. Während neuerdings sogar die Malediven den Aufenthalt in Luxussuiten mit Blick aufs Meer und integraler Infrastruktur für die Arbeit im Homeoffice anbieten, müssen hierzulande Angestellte, die unter prekären Bedingungen im Reinigungsgewerbe, auf dem Bau oder in Montagehallen arbeiten, sogar mit ihrer Kündigung rechnen, falls sie sich über mangelnde Coronamassnahmen an ihrem Arbeitsplatz beschweren. Und während die Vermögen des reichsten Viertels der Schweizer Bevölkerung im Verlaufe des Coronajahres 2020 erheblich anwuchsen, musste das ärmste Viertel alle seine Ersparnisse aufbrauchen oder sich nicht selten sogar zusätzlich verschulden. Ja, wer kann es da irgendwem übelnehmen, wenn er ein wenig wütend wird? Es gibt eben nicht nur das Bedürfnis nach Gesundheit. Es gibt ein ebenso starkes Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Um nicht missverstanden zu werden: Gewalt scheint mir auf keinen Fall ein geeignetes Mittel zu sein, um unbefriedigende Verhältnisse zu verändern. Auch wehre ich mich grundsätzlich nicht gegen wirkungsvolle Massnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie. Aber wenigstens sollte alles gleichmässig und gerecht auf alle verteilt sein. Es darf nicht sein, dass soziale Gräben durch die Coronakrise noch tiefer aufgerissen werden, als sie es vorher schon gewesen waren. Denn, wie schon der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”