«Es gibt keine Verschnaufspausen»

Was bewegt Lernende während ihrer Berufslehre? Das wollte die Pädagogische Hochschule St. Gallen in ihrer Befragung «Lebenswelten» herausfinden. Ein erster, unveröffentlichter Zwischenbericht liegt nun vor. Die bereits ausgewerteten Daten von 953 Befragten aus der Ostschweiz aus den Berufen von Kauffrau über Heizungsinstallateur bis hin zur Polymechanikerin zeigen: Die Lehre ist für viele kein Zuckerschlecken. So stimmen mehr als 60 Prozent der Lernenden der Aussage, bei der Arbeit häufig unter Zeitdruck zu stehen, mit «teilweise» bis «völlig» zu. Jeder Zehnte gibt an, es stimme völlig, dass er mehr Verschnaufpausen brauche. Die jungen Berufsleute sehen sich zudem mit grossen Ansprüchen konfrontiert: Mehr als die Hälfte findet, es stimme «teilweise» bis «völlig», dass an sie zu hohe Anforderungen gestellt würden. In der Befragung äusserten sich die Lernenden auch konkret dazu, wie sie den Druck im Arbeitsleben wahrnehmen. Eine Auswahl: Automobilfachmann im 1. Lehrjahr: «Ich muss arbeiten, als wäre ich fertig mit meiner Lehre. Ich darf zwar fragen, aber ich muss die Zeiten einhalten.» Fachfrau Gesundheit, 1. Lehrjahr: «Es ist viel Zeitmangel vorhanden, mit dem ich nicht immer klarkomme. Durch Personalmangel entsteht noch mehr Stress.» Grafikerin, 3. Lehrjahr: «Es gibt keine Verschnaufpausen, ich muss konstant an vielen verschiedenen Aufgaben arbeiten. Viele Überstunden, den ganzen Tag weg von zu Hause sein.» Fachfrau Gesundheit, 2. Lehrjahr: «Unter Zeitdruck arbeiten, Schule und Arbeit unter einen Hut zu bekommen. Allen gerecht zu werden, sei es den Patienten oder der Berufsbildnerin, Angehörigen und Lehrerinnen.» Dies alles, so Lehrlingsbetreuer Andrea Ruckstuhl, habe generell mit dem gestiegenen Druck in der Arbeitswelt zu tun. «Ein Schreiner musste früher handwerkliches Können besitzen, heute muss er zwingend einen Computer bedienen können», so Ruckstuhl. «Diese Realität kann für viele trotz vorheriger Schnupperlehre ein Schock sein», sagt er. Hinzu komme der Zeitdruck, unter dem viele Betriebe stünden. Es bleibe wenig Zeit für Lernende, sich gründlich in eine Aufgabe einzuarbeiten. So stören sich laut Befragung auch mehr als 40 Prozent der Befragten daran, immer wieder bei der Arbeit unterbrochen zu werden. Ruckstuhl beobachtet, dass die meisten Lehrvertragsauflösungen wegen Konflikten mit Mitarbeitern oder dem Chef erfolgten. Das sei wiederum auf den Druck zurückzuführen. Denn wenn die Berufsbildner gestresst seien, hätten sie auch kaum Zeit für die Lernenden – und die fehlende Hilfe führe bei den Jugendlichen zu Überforderung.

(www.20minuten.ch)

Hohe Ansprüche. Viel Zeitmangel. Viel Stress. Zu grosser Zeitdruck. Zu hohe Anforderungen. Keine Verschnaufpausen. Viele Überstunden. Zu hohe Erwartungen, allem gerecht zu werden: Lehrlinge sind die sensibelsten Gradmesser der Arbeitswelt. Denn im Gegensatz zu einem 30- oder 50jährigen Familienvater ist ihre persönliche Entwicklung noch längst nicht abgeschlossen, soziale Bindungen und persönliche Freundschaften müssen erst noch gesucht und aufgebaut werden, dunkle Phasen mit mangelndem Selbstwertgefühl, persönlichen Enttäuschungen, Gefühlen von Ohnmacht und Ausgeliefertsein an die Forderungen, Zurechtweisungen oder den Tadel durch Vorgesetzte sind nicht selten. Dazu kommt die permanente Doppelbelastung durch Arbeitsplatz und Berufsschule, an beiden Orten werden Höchstleistungen gefordert und die Lehrlinge sind damit einem Erwartungsdruck ausgesetzt, dem weder die fertig ausgebildeten Berufsleute unterliegen noch all jene Jugendlichen, welche ein Gymnasium besuchen und sich voll und ganz auf die Schule konzentrieren können. Kein Wunder also, brechen so viele Jugendliche ihre Lehre ab. Können wir uns das auf die Länge leisten? Soll sich das Karussell der Arbeitswelt immer schneller drehen, bis sich nur noch die Allerstärksten daran festzuklammern vermögen und immer mehr andere, die nicht so stark sind, über Bord gehen? Was für eine Verschleuderung von Lebenskraft, von Talenten und Begabungen. Wäre es nicht endlich an der Zeit, das Tempo des Karussells so zu verlangsamen, dass alle, die dort angefangen haben, auch bis ganz zuletzt dabei bleiben können, mit Lust und Freude und ohne krank zu werden, ohne sich permanent überfordert zu fühlen und ohne das Selbstvertrauen und den Lebensmut zu verlieren…