Es gibt keine Klimagerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit und keine soziale Gerechtigkeit ohne Klimagerechtigkeit

 

Wie die “NZZ am Sonntag” vom 20. Februar 2022  berichtet, sind bereits 2,2 Millionen Menschen in Grossbritannien in die sogenannte “Energiearmut” gerutscht. Oft stehen sie vor der Entscheidung, entweder zu heizen oder zu kochen. Viele Haushalte, vor allem im kalten Norden Englands und in Schottland, heizen nur noch ein- oder zweimal die Woche. Menschen sitzen zuhause, eingehüllt in Decken, dennoch frierend, ohne warmes Essen und in völliger Dunkelheit, weil ihr Guthaben auf dem Stromzähler aufgebraucht ist und sie kein Geld haben, um es zu verlängern. Zustände, die zuletzt während der Kriegsjahre an der Tagesordnung waren. Und es soll noch schlimmer werden: Im April wird die bisherige Preisobergrenze für Energiekosten aufgehoben und die Rechnungen werden dann um 50 Prozent steigen. Jeder zehnte Brite, jede zehnte Britin wird dann nicht mehr in der Lage sein, sich ständig Essen und Heizung zu leisten. “Auch in anderen Ländern”, schreibt die “NZZ am Sonntag”, “verschärft sich die Situation. Die Preisexplosion bei Gas und Strom treibt immer mehr Menschen mit bescheidenem Einkommen an den Rand der Existenz.” Bereits hat eine Gruppe gutbetuchter Tory-Abgeordneter im britischen Unterhaus Morgenluft gewittert und ist drauf und dran, die herrschende Notlage für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren: Sie kritisieren die hohen Energierechnungen lautstark und schieben die Schuld dafür der Klimapolitik in die Schuhe, welche infolge ihrer Investitionen in erneuerbare Energien für die gewaltige Teuerung verantwortlich sei. Soweit die Ausführungen der “NZZ am Sonntag”. Sehr zu denken geben muss uns das Vorpreschen der Tory-Abgeordneten: So wird einmal mehr dem Kampf gegen den Klimawandel der Schwarze Peter zugespielt und so werden einmal mehr die tatsächlichen Zusammenhänge auf den Kopf gestellt. Denn nicht die hohen Energiepreise sind das eigentliche Problem, auch nicht die Förderung der erneuerbaren Energien und auch nicht die Massnahmen gegen den Klimawandel. Das tatsächliche Problem ist die Armut. Wenn es sich ein Zehntel der britischen Bevölkerung nicht mehr leisten kann, täglich zu kochen und die Wohnung zu heizen, dann muss im gleichen Atemzug festgestellt werden, dass neun Zehntel der Bevölkerung sich eben dies sehr wohl leisten können, und noch weit mehr darüber hinaus, denken wir nur an all jene Ferienreisenden, die regelmässig nach Mallorca oder noch viel weiter fort fliegen und dabei Unmengen von Ressourcen verprassen, die dann genau dem ärmsten Teil der Bevölkerung so schmerzlich fehlen. Oder denken wir an die vielen grossen, weiträumigen Villen, in denen Gutbetuchte leben und ein Vielfaches dessen an Heizenergie verbrauchen, was den ärmeren Haushalten fehlt. Oder führen wir uns vor Augen, wie viele Millionen privater Motorfahrzeuge täglich über die Strassen donnern und jene Abertausenden Tonnen Erdöl wegfressen, das man viel gescheiter für die Befriedigung der minimalen Grundbedürfnisse verwenden würde. Ist das nicht eine grenzenlose Menschenverachtung, wenn es im gleichen Land, wo Menschen frieren und hungern, so viele Millionäre und Milliardäre gibt wie in wenigen anderen Ländern? Weshalb gibt es so wenig Widerstand gegen das System der kapitalistischen Klassengesellschaft, das nicht nur in Grossbritannien, sondern auch weltweit immer absurdere und wildere Blüten treibt? Doch statt die tatsächlichen Wurzeln das Übels anzupacken, werden alle Leiden bloss auf dem Buckel der Schwächsten ausgetragen und die Kaste der Reichen und Mächtigen kommt stets wieder ungeschoren davon: Werden der Klimaschutz und die Förderung der erneuerbaren Energien angeblich zum Wohle der Armen bekämpft – wie dies zum Beispiel auch die SVP in der Schweiz tut -, so ist dies in höchstem Grade scheinheilig: Eigentlich wird damit vom eigentlichen Problem, der kapitalistischen Klassengesellschaft, abgelenkt und zweitens wird die Last von der einen schwachen Gruppe, den Armen, einfach auf eine noch schwächere Gruppe abgewälzt, nämlich auf all jene Menschen, die noch gar nicht geboren sind und früher oder später unter den Folgen einer Klimaerwärmung leiden werden, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Das Hin- und Herschieben der Probleme ist fatal und nützt letztlich niemandem etwas. Es gibt keine Alternative zu einer radikalen Erneuerung unseres Gesellschaftssystems. Denn Klimagerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit ist eine ebenso grosse Illusion wie soziale Gerechtigkeit ohne Klimagerechtigkeit. Beides ist unauflöslich mit dem anderen verbunden auf dem Weg in eine Zukunft, in der das gute Leben für alle Menschen weltweit Wirklichkeit geworden sein wird.