Das Geld, welches der AHV fehlt, findet sich wieder in den Taschen der Reichen und Reichsten…

 

Eigentlich ist es absurd. Über Generationen hart geleisteter Arbeit haben die Schweiz zu dem gemacht, was sie heute ist: das reichste Land der Welt. Wäre es nun nicht an der Zeit, auch entsprechende soziale Reformen entschieden voranzutreiben und beispielsweise den Menschen einen wohlverdienten längeren Lebensabend zu gewähren? Müsste, anders gefragt, nicht das Rentenalter gesenkt werden, anstatt es weiter anzuheben und schon mit einem künftigen Pensionierungsalter von 67 oder gar 70 Jahren zu drohen? Doch seltsamerweise geht die Diskussion nur in eine einzige Richtung, nämlich in Richtung einer zukünftigen Erhöhung des Rentenalters. Und niemand scheint auf die Idee zu kommen, die Diskussion in die entgegengesetzte Richtung zu lenken, in die Richtung einer längerfristigen Senkung des Rentenalters oder einer Flexibilisierung des Rentenalters zwischen 62 und 65 Jahren, so wie dies schon vor längerer Zeit diskutiert wurde, in der heutigen öffentlichen Diskussion aber kein Thema mehr ist.

Das Hauptargument für eine Erhöhung des Rentenalters lautet, dass sich die Renten längerfristig nicht finanzieren liessen, wenn eine immer kleinere Zahl von Erwerbstätigen für eine immer grössere Zahl von Rentenbezügerinnen und Rentenbezügern aufkommen müssten. Dazu ist zu sagen, dass das Geld, welches für die Renten fehlen könnte, längst irgendwo ganz anders zu suchen ist, nämlich bei den Kapitalgewinnen, die nicht aus Arbeit entstehen, sondern aus jenem Geld, das aus der Arbeit der Werktätigen herausgepresst wird und in den Taschen der Reichen, der Unternehmerinnen, der Aktionäre verschwindet. Während noch bis vor etwa 20 Jahren das gesamtschweizerische Einkommen aus Arbeit jenes aus Kapital übertroffen hatte, ist es heute genau umgekehrt: Das Gesamteinkommen aus Kapital übertrifft jenes aus Arbeit bei Weitem. Allein die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer besitzen über 800 Milliarden Franken, das ist mehr als die gesamte jährliche Wirtschaftsleistung der Schweiz und etwa gleich viel wie das jährliche Militärbudget der USA. Allein im Jahre 2021 verzeichnete das Vermögen der 300 Reichsten eine Zunahme von sage und schreibe 115 Milliarden Franken. Auf der anderen Seite beträgt das kumulierte Defizit der AHV gemäss Bundesamt für Sozialversicherungen bis im Jahr 2050 über 260 Milliarden Franken, jährlich also rund 10 Milliarden, mehr als zehn Mal weniger, als die 300 Reichsten im gleichen Zeitraum “verdienen”. Allein der jährliche Vermögenszuwachs der 300 Reichsten würde also genügen, um die AHV um mehr als das Zehnfache zu sanieren. Und das sind erst die 300 Allerreichsten, von allen anderen zahllosen Milliardären und Millionären gar nicht zu reden.

Eine Herabsetzung des Rentenalters, zum Beispiel auf 62 Jahre mit der Möglichkeit flexibler Lösungen bis zu 65 Jahren, wäre also durchaus realistisch – vorausgesetzt, eine Umverteilung von Kapitaleinkommen in den öffentlichen Haushalt würde entschieden in Angriff genommen. Doch wird in der öffentlichen Diskussion dieser Zusammenhang kaum je thematisiert – als hätte die reiche Minderheit so etwas wie ein “gottgegebenes” Anrecht darauf, sich auf Kosten der werktätigen Bevölkerung zu bereichern und in immer grösserem Luxus zu leben, den andere für sie erwirtschaften, indem sie immer härter und immer länger arbeiten müssen. Es geht darum, die Diskussion zu öffnen, auszuweiten. Wer über Renten und über Pensionierungsalter diskutiert, muss auch über das kapitalistische Wirtschaftssystem diskutieren, wie es funktioniert und welches seine Profiteure sind und welches seine Opfer. 

Heute diskutieren wir über eine Angleichung des Frauenrentenalters an jenes der Männer. Weshalb diskutieren wir nicht über eine Angleichung des Männerrentenalters an jenes der Frauen? Weshalb soll das, was in Frankreich möglich ist, nämlich ein Pensionierungsalter von 62 Jahren, in der Schweiz nicht möglich sein? Weshalb geht die Diskussion stets nur in die eine Richtung, in die Richtung einer immer grösseren Auspressung der Werktätigen und immer verrückterer Kapital- und Börsengewinne – statt in die Gegenrichtung, in die Richtung eines allgemeinen Anspruchs auf einen wohlverdienten Lebensabend, eines umfassenden Gemeinwohls, eines fairen Teilens aller erarbeiteten Früchte und einer sozialen Gerechtigkeit nicht für einige Wenige, sondern für alle?