“Entwicklungshilfe” – nicht mehr als ein Tropfen auf einen heissen Stein…

 

Katja Gentinetta, politische Philosophin, berichtet in der “NZZ am Sonntag” vom 16. Mai 2021 über die Tätigkeit der Stiftung Swisscontact in Entwicklungsländern. So wurde beispielsweise im Jahre 2020 nach elf Jahren Laufzeit ein mit 60 Millionen Dollar dotiertes, gross angelegtes Projekt zur Stärkung der Kakaobranche in Indonesien abgeschlossen. Im Verlaufe des Projekts wurden 165’000 Kakaobäuerinnen und Kakaobauern in 57 Distrikten aus zehn Provinzen geschult. Gegenstand der Schulungen waren Betriebswirtschaft, Buchhaltung, Farm-Management und Ernährungspraxis. Ausserdem wurde eine Datenbank aufgebaut, mit der die nachhaltige Produktion verfolgt und zertifiziert werden kann. Über 100’000 Kakaobäuerinnen und Kakaobauern wurden bereits auch von dritter Stelle zertifiziert. Die landwirtschaftliche Produktivität konnte um rund 20 Prozent gesteigert werden. Und die Zahl der Kakaobäuerinnen und Kakaobauern, die unterhalb der Armutsgrenze leben, konnte halbiert werden. “Das Projekt”, so Gentinetta, “ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass die Privatwirtschaft zur nachhaltigen Entwicklung in Entwicklungsländern beitragen kann.” So erfreulich die Bilanz dieses Projekts auf den ersten Blick erscheinen mag, so viele offene Fragen stellen sich, wenn man das Ganze etwas kritischer unter die Lupe nimmt. Wenn rund 80’000 Kakaobauern und Kakaobäuerinnen nun nicht mehr unter der Armutsgrenze leben müssen, heisst das ja gleichzeitig, dass die anderen rund 80’000 immer noch unter der Armutsgrenze leben müssen und dies, obwohl 60 Millionen Dollar in das Projekt investiert wurden und die landwirtschaftliche Produktion um 20 Prozent gesteigert werden konnte. Dies zeigt, dass es sich bei alledem um reine Symptombekämpfung handelt. Die Kakaobäuerinnen und Kakaobauern werden zwar geschult, zertifiziert und in die Mechanismen des betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Denkens eingeführt, bis sie perfekt angepasst genau so funktionieren, wie der kapitalistische Weltmarkt dies von ihnen verlangt. Der eigentliche Skandal, der aber hinter allem steckt, wird nicht angepackt. Der Skandal, dass die Kakaobäuerinnen und Kakaobauern für ihre Arbeit viel zu wenig verdienen im Vergleich zu den multinationalen Konzernen, die mit dem Transport, dem Handel, der Verarbeitung und dem Verkauf der Schokolade ihre ganz grossen Milliardengeschäfte tätigen. Und das Geschäft mit dem Kakao und der Schokolade ist ja nicht das einzige Geschäft, das so funktioniert. Auch bei der Kaffeebohne, beim Palmöl, bei der Ananas, weiteren tropischen Früchten und zahllosen anderen Produkten, die in der “Dritten Welt” gewonnen werden, überall dasselbe: Zuunterst die Plantagenarbeiter, die Gemüsepflückerinnen, die Erntehelfer, welche die schwerste, anstrengendste und gefährlichste Arbeit verrichten und dennoch fast nichts verdienen, während die Profite von unten nach oben in gleichem Masse zunehmen, wie die Schwere der Arbeit abnimmt. Da ist alles, was sich “Entwicklungshilfe” nennt, lediglich ein winziger Tropfen auf einen riesigen heissen Stein, der Milliarden von Menschen in den Boden drückt: Allein die Schweiz erzielt im Handel mit Entwicklungsländern 48 Mal mehr Profit, als sie diesen Ländern in Form von Entwicklungshilfe wieder zurückgibt. Swisscontact und andere “Entwicklungshilfeorganisationen” leisten zweifellos gute Arbeit, die vielen Menschen in armen Ländern das Leben ein wenig leichter machen kann. Noch zielführender aber wäre es, wenn sich diese Organisationen ebenso eifrig um den Aufbau einer neuen, nichtkapitalistischen Wirtschaftsordnung kümmern würden, in der Menschen nicht mehr bloss deshalb zu einem Leben in Armut verurteilt sind, weil sie jene Güter produzieren, mit denen sich die Menschen in den reichen Ländern das Leben schön machen und erst noch eine goldene Nase verdienen.