Entweder werden wir als Brüder und Schwestern gemeinsam überleben oder als Narren miteinander untergehen…

 

Der Impfstoff gegen das Coronavirus wurde bisher höchst ungleich verteilt: Von 900 Millionen injizierten Dosen sind bisher nur gerade 0,3 Prozent an Menschen in Ländern mit niedrigen Einkommen verabreicht worden. Die soziale Kluft zwischen den reichen Ländern des Nordens und den armen Ländern des Südens geht also auch in der Zeit der Coronapandemie gnadenlos weiter. Und doch hat sich etwas zutiefst geändert: Früher konnten die reichen Länder des Nordens die Früchte des Südens – vom Erdöl und Edelmetallen über Tropenfrüchte, Kaffee und Kakao bis zu Edelholz, Elektrogeräten und Textilien – ungestört geniessen und sich daran bereichern. Den süssen Früchten auf dem Gestell des Supermarkts sah niemand die Leiden und die Schmerzen der Arbeiterinnen und Arbeiter an, welche diese Früchte geerntet hatten. An keinem Computer und an keinem Smartphone klebte der Schweiss jener Arbeiterinnen und Arbeiter, welche die zur Herstellung dieser Geräte notwendigen Metalle aus dem Boden geschürft hatten. Kein T-Shirt und kein Paar Schuhe war durchtränkt von den Tränen der Frauen, die bis zur Erschöpfung, oft unter Schlägen ihrer Aufseher und für einen Hungerlohn, der kaum zum Leben reichte, in den Textilfabriken Indiens oder Bangladeshs geschuftet hatten, um alle diese begehrten und schönen Dinge herzustellen. Man konnte fein säuberlich alles voneinander trennen, hier die Konsumglitzerwelt des Nordens, dort Elend und Hunger. Hier wachsender Reichtum, dort wachsende Armut. Hier Golfplätze und Naturparadiese, dort verbrannte Erde, Stürme und überflutete Meeresküsten. Das Coronavirus hat diese Grenze zwischen dem sichtbaren Reichtum des Nordens und der unsichtbaren Armut des Südens aufgelöst. Konnte sich die Kaffeebohne auf ihrem Weg vom Süden in den Norden aus einem Produkt von Ausbeutung und Hungerlohn in einen wohlschmeckenden Espresso verwandeln, so behält das Virus auf seinem Weg über die Grenzen hinweg seine ganze tödliche Gefährlichkeit. Konnten wir früher vor dem von uns selber verursachten Elend die Augen verschliessen, so geht das heute nicht mehr. Und es ist ja nicht nur die Coronapandemie. Auch die Folgen des Klimawandels werden über alle Grenzen hinweg immer deutlicher spürbar. Und auch das Flüchtlingselend an der Grenze zwischen reichen und armen Ländern appelliert immer dringender an unsere gemeinsame Verantwortung und die Tatsache, dass keines der grossen Zukunftsprobleme bloss innerhalb nationalstaatlicher Grenzen zu lösen ist, sondern dass wir alle miteinander auf einer Erde leben, auf der wir, wie es Martin Luther King sagte, “entweder als Brüder und Schwestern überleben oder als Narren miteinander untergehen.” Oder, wie es der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt formulierte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”