Eine Welt ohne Kinder?

Neue Zahlen, so berichtet der “Tagesanzeiger” vom 6. November 2023, zeigen, dass es im Verhältnis zur Bevölkerung in der Schweiz noch nie so wenige Geburten gab. Eine 49Jährige wird im Artikel mit den Worten zitiert, sie sei “jeden Tag dankbar”, dass sie sich gegen Kinder entschieden habe. Erst recht, wenn sie sehe, womit sich ihre Freundinnen und Freunde “herumschlagen” müssten. So viele Mütter, meint sie, würden unter dieser Last leiden und erzählen, wie anstrengend es sei. Alles werde teurer, es fehle an Lehrkräften und Kinderärzten, dem Klima gehe es schlecht und immer wieder käme es zu Kriegen. Weitere Gründe, keine Kinder haben zu wollen, seien die viel zu teuren Krippenplätze, Stress mit der Schule, mit Drogen, Drama bei den Hausaufgaben, psychische Probleme bereits in jungen Jahren, überteuerte Sommerferien mit schlechter Stimmung, Unfälle, Schlafmangel und vor allem: Sorgen, Sorgen, Sorgen. Auch der Demografieforscher Manuel Buchmann stellt fest, dass sich die “soziale Norm” zusehends wandle. Früher sei das Familienbild “Mann, Frau und zwei Kinder” die Norm gewesen, die neue Generation hingegen wachse mit der Idee auf, dass es “zum Glücklichsein keine Kinder braucht.” Und für Regula Simon, die eine Onlineplattform zur Vernetzung kinderloser Frauen gegründet hat, ist die Tatsache, dass sich immer mehr Menschen gegen Nachwuchs entscheiden, “ein Zeichen von zunehmender Selbstreflexion”, wobei es allerdings noch eines längeren Prozesses bedürfe, um sich endgültig “von tief sitzenden Zukunftsbildern zu verabschieden”.

Wenn das tatsächlich so wäre und dieser “längere Prozess” immer weiter voranschreiten und sich immer mehr Erwachsene mit “zunehmender Selbstreflexion” dafür entscheiden würden, keine Kinder mehr zu haben, dann müssten wir ja logischerweise irgendwann in einer Welt endlosen “Glücklichseins” leben. Ohne Stress, ohne Schulprobleme, ohne Streit und Konflikte wegen Hausaufgaben, ohne Drogen, ohne überteuerte Sommerferien, ohne Unfälle, Schlafmangel und viele weitere Sorgen. Doch kann dies allen Ernstes eine hoffnungsvolle Zukunftsvision sein? Sind Kinder, nebst allen Belastungen und Sorgen, nicht auch eine wunderbare, endlos sprudelnde Quelle neuen Lebens, eine geradezu unverzichtbare Chance für uns Erwachsene, all das, was wir schon längst nicht mehr hinterfragt haben, Tag für Tag immer wieder neu und anders zu sehen?

Das eigentliche Problem sind doch nicht die Kinder. Das eigentliche Problem sind unsere Lebensumstände, der Stress am Arbeitsplatz, der gegenseitige Existenz- und Konkurrenzkampf, finanzielle Belastungen, die Angst vor der Zukunft, all die Überforderungen in einer Welt mit so grossen, scheinbar unlösbaren Bedrohungen, kurz: das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem mit all seinen zerstörerischen Auswirkungen, in dem wir alle gefangen sind und das uns selbst noch die letzten Reste der nötigen Zeit, Ruhe und Gelassenheit raubt, um das Zusammenleben mit unseren Kindern in vollen Zügen geniessen zu können und aus ihm immer wieder neue Kraft für unser eigenes Leben zu schöpfen.

Die Lösung kann doch nicht darin liegen, keine Kinder mehr zu haben. Die Lösung muss vielmehr darin liegen, unsere Lebensumstände und unsere Arbeitswelt so umzugestalten, dass das Kinderhaben wieder so etwas Schönes werden kann, dass niemand freiwillig darauf verzichten wollte. Wie könnte eine solche “Umgestaltung” aussehen? Zunächst muss in jedem Beruf eine einzelne Vollzeitstelle genügend entlohnt werden, damit eine Familie davon leben kann, eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die auch als elementares Menschenrecht in der schweizerischen Bundesverfassung seit 175 Jahren festgeschrieben ist. Es gäbe dann für die einzelne Familie keinen finanziellen Zwang mehr, einen Zweit- oder gar Drittjob annehmen zu müssen, und Eltern könnten jederzeit frei entscheiden, in welchem Umfang sie sich ausserhäusliche Erwerbsarbeit und Familien- bzw. Hausarbeit untereinander aufteilen wollen. Das Image von Haus- und Familienarbeit muss tiefgreifend aufgewertet werden, nicht nur ideell, sondern auch finanziell, zum Beispiel durch weit höhere Familien- oder Kinderzulagen, als dies heute der Fall ist. Denn Haus- und Familienarbeit ist der wichtigste und grundlegendste Beruf, den man sich nur vorstellen kann, weder die Wirtschaft noch die Gesellschaft als Ganzes sind überlebensfähig, wenn nicht jüngere Menschen stets wieder die Aufgaben jener übernehmen, welche aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Zudem müssten Alleinerziehende so grosszügig finanziell unterstützt werden, dass sie sich vollumfänglich der Kinderbetreuung und der Hausarbeit widmen könnten und nicht gezwungen wären, einer ausserhäuslichen Erwerbsarbeit nachzugehen. Was nicht heissen muss, dass sie sich nicht trotzdem hierfür entscheiden könnten, aber freiwillig und ohne finanziell dazu gezwungen zu sein. Auch bei der Schule liegt grosser Handlungsbedarf. Kinder sollten in der Schule aufgrund ihrer individuellen Interessen ohne Druck und mit Freude lernen dürfen, das Notensystem mit seinen verheerenden Auswirkungen auf das Selbstvertrauen der Kinder muss abgeschafft werden und so Unsinniges wie Hausaufgaben, die in so vielen Familien Anlass sind für Unmut und Zwistigkeiten, sollten schon längst der Vergangenheit angehören. Längerfristig werden wir auch nicht darum herumkommen, den zunehmenden Druck und Stress in der Arbeitswelt nach und nach abzubauen und ganz allgemein der Kooperation und dem Gemeinschaftsdenken einen höheren Stellenwert einzuräumen als dem gegenseitigen Konkurrenzkampf, der nebst Gewinnern auch stets Verlierer produziert. Vieles von dem, was sich heute auf das familiäre Zusammenleben so belastend auswirkt und das Kinderhaben für immer mehr Menschen als etwas so Abschreckendes erscheinen lässt, würde sich durch solche gesellschaftliche Veränderungen zweifellos ganz von selber erübrigen und alle entstehenden Freiräume wären fruchtbar für ein freudvolles, sich gegenseitig bereicherndes Leben von Kindern und Erwachsenen.

„Weil unsere Kinder unsere einzige reale Verbindung zur Zukunft sind”, sagte der frühere schwedische Premierminister Olaf Palme, “und weil sie die Schwächsten sind, gehören sie an die erste Stelle der Gesellschaft.“ Kinder sozusagen zum Verschwinden bringen, indem man selber keine mehr haben möchte, wäre eine totale menschliche Bankrotterklärung, in letzter Konsequenz das Bekenntnis zu einer Zukunft ohne Menschheit. Wie könnte denn jemand dieses Leben hier und heute ohne Kinder wirklich “geniessen” – so im Sinne von “nach mir die Sintflut” -, wenn er doch weiss, dass er gar nicht existieren würde, wenn er nicht irgendwann einmal selber geboren wurde und selber ein Kind war? Kindern ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen, ihnen Kraft zu geben für die Bewältigung ihrer gewiss nicht einfachen Zukunft, das ist eine Aufgabe von uns allen. Auch von jenen Erwachsenen, die, obwohl sie es möchten, selber keine Kinder haben können. Es gibt so viele Möglichkeiten gesellschaftlichen Engagements, um sich, alle mit ihren individuellen Ressourcen, bei der Bewältigung unserer grossen Zukunftsaufgaben gegenseitig zu unterstützen.

Eine Welt ohne Kinder ist eine Wüste, in der alles Leben erloschen ist. Kinder sind das höchste Gut, das wir haben. Kinder erinnern uns mit ihrem Lachen und mit ihren Tränen in jedem Augenblick ihres Lebens daran, dass die Welt auch ganz anders sein könnte, als sie ist. Sie öffnen uns immer wieder die Augen für die wunderbaren, für uns auf den ersten Blick oft unsichtbaren tiefsten Geheimnisse des Lebens. Ohne Kinder sind wir verloren. Kinder sind das Tor zum Paradies, nicht zu irgendeinem erdachten Paradies in einer jenseitigen Welt, sondern zum Paradies hier und heute auf dieser Erde. Wir müssen den Kindern nur genug aufmerksam zuhören, um die Wege kennenzulernen, auf denen sich eine Welt voller Hass, Gewalt, Zerstörung und Kriegen in eine Welt voller Liebe, Gerechtigkeit und Frieden verwandeln liesse. “Drei Dinge”, sagte der italienische Dichter Dante Alighieri, “sind uns aus dem Paradies geblieben: Sterne, Blumen und Kinder.” Wollen wir uns tatsächlich diesem unermesslichen Geschenk verweigern?