Eine Stunde schneller von Zürich nach München – und dann?

Ab dem kommenden Fahrplanwechsel im Dezember wird die Bahnreise von Zürich nach München nur noch vier statt wie bisher fünf Stunden betragen. Damit sagen SBB und DB ihrer Konkurrenz in der Luft und auf der Strasse den Kampf an. Wählen heute noch 5’000 Reisende pro Woche für diese Strecke den Fernbus, 3’900 die Bahn und 3’700 das Flugzeug, soll die Bahn zukünftig die unbestrittene Nummer eins sein. Doch das hat seinen Preis: 500 Millionen Euro gibt Deutschland aus, um die Strecke zwischen Lindau und München zu elektrifizieren, 50 Millionen steuert die Schweiz bei. Unzählige Signale, Weichen, Stellwerke und Bahnübergänge werden ersetzt, in Lindau entsteht nach zweijähriger Bauzeit ein neuer Durchgangsbahnhof und eine 5300 Tonnen schwere Brücke, die um 13 Meter in ihre Endposition verschoben werden muss, wird gebaut. Allein die zu errichtenden Lärmschutzwände verschlingen ein Fünftel der gesamten Bausumme. Und dies alles, um die Strecke zwischen Zürich und München um eine Stunde schneller zu machen.

(10vor10, Schweizer Fernsehen SRF1, 29. Juni 2020)

Wird das alles genügen, um die Konkurrenten auf der Strasse und in der Luft zu bezwingen?  Werden die Fernbusse und die Luftfahrtgesellschaften nicht alles daran setzen, durch möglichst tiefe Preise so viele Passagiere wieder von der Schiene wegzulocken auf die Strasse und in die Luft? Und was werden sich SBB und DB hernach einfallen lassen, um trotz alledem wieder von neuem die Nummer eins zu sein? Werden sie eine Brücke über den Bodensee bauen oder an all jenen Stellen, wo infolge von Kurven nur langsam gefahren werden kann, Tunnels bauen lassen? Das alles mag absurd klingen, wäre aber nichts anderes als die logische Folge dessen, was vor 50 Jahren auch noch nicht denkbar gewesen wäre, heute aber so normal erscheint, als hätte es nie etwas anderes gegeben. Doch so kann es nicht endlos weitergehen. Früher oder später werden wir uns von der Vorstellung lösen müssen, das Verkehrssystem sei eine Art Supermarkt, aus dem man stets das billigste und bequemste Produkt frei auswählen könne. Wir brauchen nicht drei oder vier Varianten, um von Zürich nach München reisen zu können, es genügt eine einzige Variante, und diese soll, im Vergleich mit allen anderen, über die beste wirtschaftliche, soziale und ökologische Gesamtbilanz verfügen, egal, ob diese Reise dann vier, fünf oder sechs Stunden dauert. Das bedrohe aber die individuelle Freiheit des Einzelnen, werden Gegner eines solchen integralen Verkehrssystems einwenden. Nun gut, aber soll die Freiheit des Einzelnen tatsächlich so weit führen, dass wir ganze Landschaften zubetonieren, Rohstoffe masslos ausbeuten, die Klimaerwärmung immer noch mehr und noch mehr anheizen und in letzter Konsequenz die Natur und den ganzen Planeten, auf dem wir leben, zerstören?