Eine Kellnerin und hundert Gäste: Kapitalistisch-patriarchale Klassengesellschaft pur an einem Sonntagnachmittag im Bahnhofrestaurant

Alle Tische sind besetzt und am Eingang stehen schon ungeduldig ein paar weitere, die unbedingt auch noch einen Platz wollen. Und wenn sie dann einen haben: Alles muss möglichst rasch gehen, denn der Zug wartet nicht und wird auf die Sekunde abfahren…

Die Kellnerin hetzt von Tisch zu Tisch, hier abräumen und einen Berg Teller zur Geschirrsammelstelle schleppen, dort eine Bestellung aufnehmen, hier einem älteren englischsprachigen Ehepaar die Speisekarte erklären, dort einen Tisch putzen und neues Gedeck sowie die Speisekarte auflegen, hier die bestellten Speisen und Getränke servieren, dort den Rechnungsbetrag einziehen, am einen Tisch bar, am nächsten mit der Kreditkarte und wieder an einem anderen mit Twint. Steht sie an einem der Tische und nimmt die Bestellungen auf, schnippen hinter ihr schon drei weitere Gäste mit den Fingern, rufen “Bedienung!”, wollen ebenfalls so schnell wie möglich etwas bestellen oder schon wieder bezahlen, um den Tisch freizugeben für die Nächsten. Was für eine unglaubliche Leistung. Nur mit der alleräussersten Anstrengung schafft sie es, die Gäste immer gerade so weit zufriedenzustellen, dass nicht plötzlich einer ausrastet und die Nerven verliert, weil er zu lange warten musste. Wie ein auf die maximale Höchststufe getrimmter Roboter hetzt sie mit den schnellstmöglichen Schritten von Tisch zu Tisch, die längeren Strecken zur Speiseausgabe und wieder zurück zu den Tischen oder hinüber zur Geschirrsammelstelle legt sie meistens im Laufschritt zurück. Kein Wunder, ist sie total ausser Atem, als sie an meinem Nebentisch eine Bestellung aufnimmt und zuerst einmal tief Luft holen muss, bevor sie die Frage des älteren Herrn beantworten kann, welchen Wein sie ihm zu dem von ihm ausgesuchten Menu empfehlen würde. Als der Herr zwischendurch ungeduldig auf seine Uhr schaut, sagt sie, es tue er leid, dass er so lange warten musste, aber es sei im Moment einfach unglaublich viel los. Vermutlich wären selbst drei Angestellte, wenn man die Arbeit der Kellnerin auf diese verteilen würde, immer noch mehr als ausgelastet…

Aber das Verrückteste ist, dass sie, kaum ist sie an einem Tisch angekommen, jedes Mal die Ruhe selbst ist. Als könnte sie pausenlos vom Modus höchster Geschwindigkeit ohne Übergang in einen Modus absoluter Ruhe und Gelassenheit wechseln. Mit unfassbarer Geduld wartet sie, stets freundlich lächelnd, bis sich die Gäste, oft nach langem Hin und Her, für eines der Menus sowie Getränke und mögliche Zusatzwünsche entschieden haben, während an allen Ecken und Enden viele andere ebenfalls darauf warten, bedient zu werden. Mir fällt auf, dass sie sogar manchmal dem einen oder anderen Gast die Hand auf die Schulter legt, sich auf einen kurzen Smalltalk einlässt oder laut auflacht, wenn an einem Tisch die eine oder andere witzige Bemerkung fällt. Nun ja, die Gastgeberin in Reinkultur, wie man sie sich perfekter nicht vorstellen könnte: Einerseits eine Arbeitsmaschine auf Höchsttouren, anderseits mit so viel Wärme, Fröhlichkeit und persönlicher Ausstrahlung ausgestattet, dass nicht nur den kulinarischen, sondern auch den emotionalen Bedürfnissen der Gäste nur das Allerbeste geboten wird. Und ja, was denn sonst: eine Ausländerin!

Und auf einmal frage ich mich: Wo sind denn die anderen Angestellten des Restaurants? Meine Blicke überfliegen den grossen, fast bis auf den letzten Platz gefüllten Saal. Und ja, ob man es glauben will oder nicht: In der einen Hälfte des Saales mit mindestens hundert Plätzen sehe ich nur sie an der Arbeit. In der anderen Hälfte des Saales, mit ebenfalls rund hundert Plätzen, sind es drei Männer, die ich dort arbeiten sehe und die sich um einiges langsamer und gemächlicher von Tisch zu Tisch bewegen. Ist das von den Vorgesetzten bewusst so geplant? Oder ist es etwas, was sich einfach sozusagen von selber daraus ergibt, wenn eine Frau sich bis zum Äussersten aufopfert und die Männer so die Möglichkeit bekommen, sich immer weiter nach und nach zurückzuziehen?

Aber noch viele weitere Fragen schwirren mir durch den Kopf: Um wie viel höhere Einkommen als diese Kellnerin haben wohl all jene, die auf den “höheren Ebenen” dieses Gastrounternehmens angesiedelt sind, als Verwalter, Geschäftsführer, Buchhalter und was immer bis hinauf zum Manager und noch weiter hinauf zu den Besitzern, wahrscheinlich Aktionäre, die von jedem Franken, welche die Kellnerin bis zum Umfallen erschuftet, die Hälfte einsacken, ohne dafür auch nur einen Fuss vor den andern setzen und ohne Riesenberge von Geschirr schleppen zu müssen und ohne der permanenten Ungeduld all jener ausgesetzt zu sein, die auf keinen Fall ihren Zug verpassen dürfen? Müssten nicht eigentlich sie, die dank möglichst niedriger Lohnkosten ihren Profit aus dem Unternehmen quetschen, und nicht die Kellnerin, dafür entschuldigen, wenn ein Gast zu lange warten musste?

Kapitalistisch-patriarchale Klassengesellschaft wie seit eh und je, drastischer könnte ich sie an diesem Sonntagnachmittag in diesem Bahnhofrestaurant nicht mitbekommen haben. Und als dann, als Tüpfelchen auf dem i, nicht etwa die Kellnerin, sondern einer der Männer, den ich bis jetzt fast immer nur neben der Kasse herumstehen gesehen habe, mit der Rechnung zu mir an den Tisch kommt und dies vermutlich nicht zuletzt mit der Erwartung auf ein nettes Trinkgeld verbindet, verliere ich für einen kurzen Augenblick jeglichen Glauben daran, dass die Gleichberechtigung von Frauen in den vergangenen zehn oder zwanzig Jahren tatsächlich auf breiter Ebene Fortschritte gemacht hat. Zumindest nicht in diesem Bahnhofrestaurant an diesem Sonntagnachmittag. Und wahrscheinlich ebenso wenig an unzähligen anderen Orten der kapitalistischen Arbeitswelt. Bevor ich das Restaurant verlasse, gehe ich zur Kellnerin, danke ihr für ihre unglaubliche Arbeitsleistung und ihre unfassbare Freundlichkeit inmitten von soviel Stress und drücke ihr fünf Franken in die Hand. “Danke”, sagt sie, “ich versuche einfach, mein Bestes zu geben.” Es sind vermutlich nicht viele, die ihr an diesem Sonntagnachmittag dafür gedankt haben, dass sie sich trotz eines so miesen Lohnes dermassen für das Wohl ihrer Gäste aufopfert und damit jene Basisarbeit leistet, ohne welche sämtliche ihrer Vorgesetzten, Chefs und Besitzer auch nicht einen einzigen Franken verdienen könnten…

Zuletzt stellt sich mir unweigerlich die Frage, wie viele der Gäste, die sich heute in diesem Restaurant von Ausländerinnen und Ausländerinnen bedienen lassen, möglicherweise die Gleichen sind, die bei jeder anderen Gelegenheit mit denen mitbrüllen, die sich die “Ausländer-raus-Parolen” auf die Fahnen geschrieben haben. Würden sie dann, wenn alle Ausländerinnen und Ausländer endlich “raus” wären, wohl das Essen im Restaurant selber kochen und sich selber bedienen? Würden sie, wenn alle Ausländerinnen und Ausländer “raus” wären, ihre Strassen und Häuser wieder selber bauen, und würden sie, wenn sie einmal alt geworden wären und im Alters- oder Pflegeheim leben würden, ihre Windeln selber wechseln? Wohl kaum. Wächst doch die Zahl jener, die genug Geld haben, um sich an allen Ecken und Enden von anderen bedienen zu lassen, in gleichem Masse, wie die Zahl jener abnimmt, die überhaupt noch bereit sind – und wenn, dann nur, weil sie keine andere Wahl haben -, zu miesen Bedingungen andere rund um die Uhr bedienen zu müssen und sich dabei erst noch alle möglichen Schikanen gefallen zu lassen. Bis dann vielleicht eines Tages diese Kellnerin noch die Einzige sein wird und ganz alleine über zweihundert Gäste bedienen wird, während draussen beim Eingang weitere zweihundert ungeduldig warten, damit sie ihren Zug auf keinen Fall verpassen werden…