Ob auf Wahlpodien, in Abstimmungszeitungen oder in Diskussionssendungen am Fernsehen: Kein Politiker fordert eine öffentliche Einheitskrankenkasse, obwohl sich eine solche auf die Gesundheitskosten ohne Zweifel überaus mässigend auswirken würde. Und keine Politikerin fordert ein generelles Waffenausfuhrverbot, obwohl es auch hierfür mehr als genug gute Gründe gäbe. Und schliesslich gibt es auch weit breit keinen Politiker und keine Politikerin, die eine Abschaffung der Schweizer Armee befürworten würde. Der Grund liegt auf der Hand: Über alle diese und vieleweitere Postulate wurde vor kürzerer oder längerer Zeit abgestimmt, sie fanden an der Urne keine Mehrheit, somit sind sie sozusagen abgehakt, erledigt
Doch das wirft ein paar grundsätzliche Fragen auf: Denn es ist ja nicht so, dass weit und breit niemand den betreffenden Abstimmungsvorlagen Sympathien entgegengebracht hätte. Im Gegenteil: Nicht selten betrug der Ja-Anteil 30 Prozent oder mehr, was nichts anderes heisst, als dass rund eine Million Schweizer und Schweizerinnen der betreffenden Vorlage zugestimmt hatten. So etwa erhielt 1987 die Initiative für eine koordinierte Verkehrspolitik 45,5 Prozent Ja-Stimmen. Der Armeeabschaffungsinitiative von 1989 stimmten 36 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer zu. 33,3 Prozent sagten im Jahre 1998 Ja zum Schutz von Leben und Umwelt vor Genmanipulation. 2000 erhielt die Initiative für eine Halbierung des motorisierten Strassenverkehrs – ein aus heutiger Sicht brandaktuelles Begehren – 21,3 Prozent Ja-Stimmen. 2001 würde über Tempo 30 generell innerorts abgestimmt, 20,3 Prozent waren dafür. Der Einführung einer sozialen Einheitskrankenkasse stimmten 2007 28,8 Prozent der Bevölkerung zu. 2007 wurde über eine Initiative gegen Tierquälerei und für einen besseren Rechtschutz der Tiere abgestimmt, 29,5 Prozent sagten ja. 2009 ging es um ein Verbot von Kriegsmaterialexporten, 31,8 Prozent waren dafür. Im gleichen Jahr hatten die Schweizerinnen und Schweizer über die Einführung von sechs Wochen Ferien für alle zu befinden, 33,5 Prozent fanden es eine gute Idee. Um die Einführung eines Mindestlohns von 4000 Franken ging es 2012, 23,7 Prozent stimmten dieser Vorlage zu. 2014 kam es zu einer Neuauflage einer Einheitskrankenkassenvorlage, diesmal gab es immerhin bereits 38,1 Prozent Ja-Stimmen. Und schliesslich die Abstimmung über die Vorlage «Keine Spekulation mit Nahrungsmitteln», ebenfalls 2014, mit einem Ja-Anteil von 40,1 Prozent.
Was bedeutet dies? Es ist eine Demokratie der «Sieger», eine Demokratie der mathematischen Mehrheit, die, davon gehen wir offensichtlich aus, immer Recht hat. Die «Verlierer» bleiben auf der Strecke, ihre Argumente verschwinden in nichts, ihre Ideen, Wünsche und Visionen werden, selbst wenn sie einen Stimmenteil von 49,9 Prozent erzielt hätten, im Augenblick der Abstimmung, welche sie verloren haben, pulverisiert. Dabei haben sie sich mit den entsprechenden Vorlagen wohl ebenso gründlich auseinandergesetzt wie ihre politischen «Gegner», nur sind sie zu anderen Schlüssen gelangt. Wäre Demokratie nicht bloss die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit, dann müsste man Mittel, Wege und Instrumente entwickeln, mit denen das Gedankengut, das Wissen, die Ideen und der Erfahrungsschatz der «Unterlegenen» in die jeweilige Ausgestaltung neuer gesellschaftlicher Konzepte einfliessen könnten.
Zurück zu unseren Politikern und Politikerinnen, die gewisse Themen gar nicht mehr ansprechen, weil sie bereits irgendwann durch eine entsprechende Volksabstimmung «erledigt» wurden. Das erinnert an Bäume, die verzaubert wurden. Und verzauberte Bäume berührt man nicht mehr. Mit anderen Worten: Man spricht nicht mehr von der Einführung einer Einheitskrankenkasse. Man spricht nicht mehr von der Abschaffung der Armee. Man spricht nicht mehr von einem generellen Ausfuhrverbot von Kriegsmaterial. Man spricht nicht mehr von sechs Wochen Ferien für alle. Man spricht nicht mehr von einem Mindestlohn für alle. Man spricht auch nicht mehr – obwohl dieses Problem dringender denn je einer Lösung bedarf – von einer Halbierung des motorisierten Strassenverkehrs. Das alles sind Tabus, verzauberte Bäume. Eine fatale Entwicklung, führt sie doch dazu, dass immer mehr Bäume verzaubert sind und der Platz dazwischen, wo noch neue Bäume gepflanzt werden können, immer kleiner wird…