Ein Universitätsprofessor und seine seltsame Theorie: Als wären Frauen selber Schuld, wenn sie weniger verdienen als Männer…

 

“Es gibt kaum Lohndiskriminierung”, sagt Rainer Eichenberger, Finanz- und Wirtschaftsprofessor an der Uni Freiburg, in “20Minuten” vom 28. November 2022, “denn Frauen haben andere Ausbildungen als Männer und arbeiten mehr Teilzeit und seltener in Führungspositionen sowie in Branchen und Firmen mit hohem Lohnniveau.”

Was uns der Wirtschaftsprofessor damit wohl weismachen will: Dass Frauen ja selber Schuld seien, wenn sie weniger verdienten. Sie müssten halt bloss höhere Ausbildungen absolvieren, weniger Teilzeit arbeiten, häufiger in Führungspositionen aufsteigen und in Branchen und Firmen mit höherem Lohnniveau arbeiten. Doch wenn alle Frauen in “höhere” Positionen aufstiegen, wer würde dann noch all jene Arbeiten erledigen, die heute noch fast ausschliesslich in den Zuständigkeitsbereich von Frauen fallen? Wer würde sich in den Kitas um das Wohl der Kleinkinder kümmern? Wer wäre in Spitälern, Alters- und Pflegeheimen für das Wohl der kranken und pflegebedürftigen Menschen besorgt? Wer würde in den Restaurants die Gäste bedienen, in den Hotels die Zimmer saubermachen und spät in der Nacht dafür sorgen, dass Korridore, Empfangsräumlichkeiten, Büros und Toiletten sich am nächsten Morgen stets wieder in Hochglanz präsentieren? Wer würde in den Fabriken Hemden nähen, Lebensmittel verpacken und Holzspielzeug bemalen? 

Der eigentliche Skandal besteht nicht darin, dass Frauen für die “gleiche” Arbeit rund 18 Prozent weniger verdienen als Männer. Der eigentliche Skandal besteht darin, dass in typisch “weiblichen” Berufen drei, vier oder fünf Mal weniger verdient wird als in typisch “männlichen” Berufen. An diese Ungleichheit haben wir uns offensichtlich so sehr gewöhnt, dass wir sie sozusagen als “gottgegeben” hinnehmen und kaum jemand auf die Idee zu kommen scheint, sie grundsätzlich in Frage zu stellen.

Dabei gäbe es mehr als genug gute Gründe, dies zu tun. Hierzu bedürfte es aber eines radikalen Perspektivenwechsels und einer neuen Sicht darauf, was denn die tatsächlich “wichtigen” und “weniger wichtigen” beruflichen Tätigkeiten sind. Nehmen wir als Beispiel das Erziehungswesen. Es ist längst bekannt, dass die Zuwendung, Unterstützung und Anregung, die ein Kind im Laufe seines Aufwachsens erfährt, im frühesten Alter am allermeisten Bedeutung hat für eine spätere gesunde Entwicklung, für das Lernen, das Selbstvertrauen und die Persönlichkeitsbildung. Hier leisten auch heute noch immer die Mütter den Löwenanteil. Je älter das Kind wird, umso weniger entscheidend wird der Einfluss durch Betreuungs- und Erziehungsperson, von der Betreuerin in der Kindertagesstätte über die Kindergärtnerin, die Primarlehrerin, die Lehrpersonen auf der Oberstufe, der Berufsschule oder des Gymnasiums bis hin zur Hochschuldozentin oder zum Hochschuldozenten. Doch in gleichem Masse, wie die Bedeutung der pädagogischen Begleitung und Erziehung von Jahr zu Jahr abnimmt, nimmt in gleichem Masse der Lohn von Stufe zu Stufe zu, sodass am Ende ein Hochschuldozent fast fünf Mal so viel verdient wie eine Kitaangestellte – von der Mutter, die ihre so unerlässliche und wesentliche Basisarbeit zum reinen Nulltarif leistet, gar nicht erst zu reden…

Eine buchstäblich verkehrte Welt. Denn es ist nicht nur im Erziehungswesen so. Auch der Wirt eines Restaurants könnte augenblicklich zusammenpacken, wenn es keine Serviererinnen gäbe, die seine Gäste bedienen. Das Hotel, das keine Zimmermädchen hätte, müsste schliessen und die Aktionärinnen und Aktionäre kämen augenblicklich nicht mehr in den Genuss ihrer Dividenden. Auch Chefärzte und Chefärztinnen verdanken ihre hohen Gehälter einzig und allein dem Umstand, dass genügend Krankenpflegerinnen und Physiotherapeutinnen all die Basisarbeit leisten, die für die Betreuung vor und nach den Operationen notwendig ist. Und auch die Abteilungsleiter und Manager von Supermärkten sind darauf angewiesen, dass Tausende von Verkäuferinnen bienenfleissig unablässig all die Gestelle immer wieder auffüllen, damit die Kundschaft ihre Bedürfnisse befriedigen kann.

Die heute immer noch bestehenden Lohnunterschiede widerspiegeln nicht die Bedeutung und die Wichtigkeit eines Berufs, sondern einzig und allein seine Stellung auf jener Machtpyramide, die dereinst von Männern geschaffen wurde und  erstaunlicherweise – trotz einer vieljährigen breiten “Gleichstellungsdiskussion” – bis heute immer noch weitgehend unangetastet geblieben ist. Es genügt nicht, wenn Frauen in “vergleichbaren” Berufen gleich viel verdienen wie Männer. Echte Gleichstellung ist erst dann erreicht, wenn in den Berufen, die als typisch “weiblich” gelten, genauso viel verdient wird wie in jenen Berufen, die als typisch “männlich” gelten. Das ist nicht nur eine Frage der jeweiligen Lohnsumme, sondern vor allem auch eine Frage der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit so tief in unseren Köpfen festsitzenden Wertvorstellungen, dass es einer umso grösseren Anstrengung bedarf, um diese zu überwinden.