Ein neues Zeitalter, in dem der Mensch überflüssig geworden ist?

“Das Silicon-Valley ist fasziniert vom sogenannten Transhumanismus: Diese Ideologie, die besagt, der Mensch müsse seine Fähigkeiten – intellektuell, physisch oder psychisch – durch den Einsatz von Technik erweitern und fortentwickeln; in einer Art technisierter Evolution. Ich war letzthin an eine Diskussionsrunde eingeladen, an der ein Transhumanist darüber dozierte, dass die Menschen endlich die Fackel an die Technologie weitergeben müssen. Die Technologie trete die Nachfolge der Menschheit an, die Menschen müssten sich selbst überwinden. Als ich mich dann für den Menschen einsetzen wollte, erwiderte der Transhumanist, diese Frage würde ich nur deshalb stellen, weil ich ein Mensch sei.”

(Douglas Rushkoff, Autor und Musiker, in: Sonntagszeitung 16. Februar 2020)

Das Plädoyer für den Menschen schien den Transhumanisten zu irritieren. Offenbar wäre es ihm lieber gewesen, seinen Vortrag vor einer Gruppe von Robotern zu halten, die dann allesamt Fragen gestellt hätten, die ihm sympathischer gewesen wären. Denn genau das schwebt ihm ja vor: Eine Welt, in der sich der Mensch “überwindet” und nach und nach von der Technologie überflüssig gemacht wird. Sind wir nicht bereits auf dem besten Weg dorthin? In Japan gibt es Hotels, in denen man an der Reception nicht mehr von einem Menschen, sondern von einem Roboter empfangen wird. In den USA gibt es Schulen, wo sich ein Kind, das Probleme hat, nicht mehr an seine Lehrerin, einen Schulsozialarbeiter oder eine Schulpsychologin aus Fleisch und Blut wenden kann, sondern mit einem Roboter Vorlieb nehmen muss, der mit sämtlichen Problemen, die ein Kind in einem bestimmten Alter haben kann, gefüttert ist. In vielen Alters- und Pflegeheimen kommen bereits heute Roboter zum Einsatz, welche die Pflege- und Betreuungsarbeit übernehmen, die zuvor vom Pflegepersonal geleistet wurde. Selbst Operationen werden immer öfters von Robotern ausgeführt, der Arzt oder die Ärztin sitzt am Bildschirm, von wo aus alles gesteuert wird. Ganze Häuser werden schon nicht mehr von Maurern, Zimmerleuten und Gipsern gebaut, sondern von ferngesteuerten Robotern. Und selbst die Kunst ist für die Künstliche Intelligenz kein Tabu mehr: Roboter malen Bilder, schreiben Bücher und komponieren ganze Musikwerke. Geht die Entwicklung im gleichen Tempo weiter wie in den vergangenen zehn Jahren, dann könnten die Transhumanisten tatsächlich Recht bekommen und der Mensch wäre eines Tages gänzlich überflüssig geworden. Doch wer und was treibt diese ganze Entwicklung überhaupt an? Wer und wann und weshalb hat uns Menschen den Auftrag gegeben, uns selber überflüssig zu machen? Die Antwort ist einfach: Alles hat damit angefangen, dass es ein Ziel gibt, mit dem alle einverstanden sind, das Ziel nämlich, alle Produktions- und Arbeitsläufe permanent zu “optimieren”, das heisst: immer schneller und billiger zu machen. Und sobald auch nur eine einzelne Firma, ein einziges Unternehmen damit angefangen hat, sind alle anderen gezwungen, es ihm gleich zu tun oder noch besser: es zu überflügeln, was wiederum dazu führt, dass das erste Unternehmen, das damit angefangen hat, sich noch etwas Raffinierteres als alle anderen einfallen lassen muss, um nicht auf der Strecke zu bleiben – das kapitalistische Konkurrenzprinzip, in dem jeder der Widersacher des anderen ist, ein Karussell, das sich naturgemäss immer schneller dreht und dabei nicht bloss eine endlos wachsende Menge an zunehmend überflüssigen Produkten herstellt, sondern auch eine zunehmende Zahl an Opfern, die das immer schneller werdende Tempo nicht mehr mitzuhalten vermögen. Und weil der arbeitende Mensch der grösste Kostenfaktor ist, geht es eben darum, mit immer weniger Menschen eine immer grössere Arbeitsleistung zu schaffen bzw. immer mehr Tätigkeiten, die bisher von Menschen erbracht wurden, an Roboter, Computer und Maschinen zu delegieren. Und so geht das immer weiter: Wenn Firma A ihre Häuser nur noch mithilfe von Robotern baut, müssen auch alle anderen Firmen ihre Häuser mit der Zeit mithilfe von Robotern bauen lassen, wenn nicht, wird ihr Konkurrenznachteil früher oder später so gross, dass sie auf der Strecke bleiben. Wenn wir daher diese Entwicklung, diesen “Transhumanismus” nicht einfach widerspruchslos über uns hinwegrollen lassen und uns, als Menschen, überflüssig machen wollen, dann genügt es nicht, den Mahnfinger gegenüber dem einen oder anderen Exzess zu erheben. Es geht um etwas viel Grundlegenderes: Es geht darum, Arbeit, Produktion und Wirtschaft auf eine neue Grundlage zu stellen und das bisherige Konkurrenzprinzip, in dem jeder der Feind des anderen ist, durch das Prinzip der Kooperation und des Gemeinwohls zu ersetzen, nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern auch von Unternehmen zu Unternehmen, von Land zu Land. Das schliesst technische Fortschritte ganz und gar nicht aus. Aber nicht in Form einer Dampfwalze, die ungefragt über uns Menschen hinwegrollt und uns in letzter Konsequenz überflüssig zu machen droht. Sondern in Form nützlicher Werkzeuge, die ein gutes Leben ermöglichen, und zwar weltweit. Um diese Transformation zu schaffen, braucht es nicht die Überwindung des Menschen, sondern, ganz im Gegenteil, seine ganze Phantasie, seine Kreativität, seine Sensibilität, seine soziale und praktische Intelligenz – genau all das, was niemals eine Maschine, ein Computer oder ein Roboter zu leisten vermögen!