Meine Enkelin Star war viereinhalb Jahre alt, als sie mir eines Tages ganz aufgeregt etwas zeigte. “Schau, Opa”, sagte sie, “das ist ein X!” Es war tatsächlich der Buchstabe X, den sie in einem Wort gefunden hatte, welches ihre sechs Jahre ältere Schwester Leonie auf ein Blatt Papier geschrieben hatte. “Und das hier kenne ich auch”, sagte sie und zeigte auf die Buchstaben N, O und A. “Aber die hier”, sie zeigte auf die anderen Buchstaben im Wort, “die weiss ich noch nicht.” Und dann bat sie mich, in ihr Zimmer zu kommen. Voller Stolz nahm sie eine kleine, bunte Blechdose von ihrem Nachttischchen und öffnete sie: “Schau, hier sind sie!” In der Blechdose lagen, in verschiedenen Farben auf kleine Zettel geschrieben, tatsächlich die Buchstaben X, N, O und A. Mila, ihre zwei Jahre ältere Schwester, hatte sie auf die Zettelchen geschrieben und ihr versprochen, jeden Tag ein weiteres mit einem neuen Buchstaben hinzuzufügen.
Doch nach sieben Tagen hatte Star genug. “Das reicht”, sagte sie. Auch während der folgenden zwei Wochen zeigte sie kein Interesse mehr an den Buchstaben. Wäre das alles zwei Jahre später geschehen, mitten in der Schule, hätte die klassische Lehrerin wahrscheinlich schon von einer Lernverzögerung oder gar von einer Lernverweigerung gesprochen. Doch Star hatte jetzt ganz einfach ihr Interesse vorübergehend auf anderes ausgerichtet, zum Beispiel auf die Farben des Regenbogens, mit denen sie verschiedene Tiere malte, oder auf eine Kartonschachtel, aus der sie eine Öffnung herausgeschnitten hatte und die sie sich nun über den Kopf stülpte, um einen Hasen zu spielen. Die nächsten Buchstaben konnten noch etwas warten…
Auch auf dem Nachttischchen ihres Zwillingsbruders Bosni lag eine kleine, bunte Blechdose. Aber die war noch leer. Dafür hatte er jetzt noch keine Zeit. Viel zu sehr war er damit beschäftigt, alles Erdenkliche, was sich auseinandernehmen liess, in seine Einzelteile zu zerlegen und dann wieder zusammenzufügen. Oder mithilfe von Google-Street die Häuser der Grosseltern, den Bahnhof oder den Migros-Supermarkt aufzusuchen, so zielsicher und in einem so horrenden Tempo, dass ich mit meinen Augen seiner Fahrt schon gar nicht mehr zu folgen vermochte. Aber die Blechdose hatte er sich trotzdem nicht nehmen lassen. Und wahrscheinlich wusste er bereits, dass auch er sie eines Tages zu füllen beginnen würde.
Kurz darauf begann Star, in Bilderbüchern jene Buchstaben zu suchen, die sie schon kannte. Dabei fiel ihr auf, dass einige Wörter mit grossen Anfangsbuchstaben geschrieben wurden und andere mit kleinen. Mila wusste auch nicht genau weshalb, aber Leonie konnte die Angelegenheit klären. Nun begann Star, zum ersten Mal selber kleine Wörter zu schreiben. Und eines Nachts sah sie im Traum vor sich den Buchstaben B. Der war plötzlich ganz gross angeschwollen und war zur Seite gekippt, so dass unten die gerade Seitenlinie lag und oben die zwei Bögen wie kleine Buckel. Diese begannen sich auf einmal in zwei Flügel zu verwandeln und plötzlich flog der zu einer Biene gewordene Buchstabe B fort, in unsichtbare Ferne. Überhaupt, die Träume. Wären sie sichtbar gewesen, dann hätten sie wahrscheinlich einem grossen See geglichen, in den oben immer wieder neue, kleine, grosse, bunte, glitzernde, bekannte und unbekannte Buchstaben hineinfielen, um sich dann, im Wasser hin und her schaukelnd, langsam auf den Grund des Sees hinab zu senken. Das waren dann wohl jene Augenblicke, in denen Star wieder etwas Neues “gelernt” hatte.
Und so ging das weiter, über Wochen und Monate, mal schneller, mal langsamer, mal gar nicht. Eine Reise voller Abenteuer und Entdeckungen. Die Blechdose füllte sich nach und nach, alles bewegte sich in Richtung Vollkommenheit, denn das ist das Wesen des Lernens: Es gibt nichts Perfektionistischeres als ein Kind. Es will ALLES und es will alles so GUT wie nur irgend möglich. Wir könnten uns untrüglich darauf verlassen: Eines Tages würde Star ebenso perfekt lesen und schreiben können, wie sie auch mündlich ihre Muttersprache so perfekt und in allen nur erdenklichen Variationen beherrschte – vorausgesetzt, es wäre stets alles von guten Gefühlen begleitet, von unbändiger Entdeckungslust, vom Triumph, plötzlich Dinge zu können, die eben noch völlig unbekannt gewesen waren. Ja, es müsste funktionieren, aber nur, wenn sich die Erwachsenen nicht zu früh in dieses wundervolle Geschehen einmischen, nicht leichtfertig die Sache der Kinder zu ihrer eigenen Sache machen und nicht auf einmal das Erlernen von Buchstaben mit schlechten Gefühlen verbinden würden, mit Ängsten, Über- oder Unterforderungen, mit übertriebenen Erwartungen, unnötigem Belehren, langweiligen Übungsblättern ohne jegliche Glücksgefühle und viel zu vielen weiteren künstlichen Eingriffen, die wie Giftpfeile das Lernen der Kinder, dieses heilige Wunder, nur zu schnell und unbedacht zu stören, zu verletzen, zu blockieren und zu zerstören drohen. Denn es ist eben ganz genau so, wie der Entwicklungspsychologe Jean Piaget einst so treffend sagte: “Alles, was den Kindern beigebracht wird, können sie selber nicht mehr lernen.”