Edmund Hillary und Tenzing Norgay vor 70 Jahren auf dem Mount Everest: Und noch immer wiederholt sich die endlose Geschichte von den Herren und ihren Sklaven…

Vor 70 Jahren, am 29. Mai 1953, erfolgte die Erstbesteigung des Mount Everest, des höchsten Berges der Welt. Aus diesem Anlass schreibt der “Tagesanzeiger”: Der Neuseeländer Edmund Hillary kehrte als Legende heim, nachdem er zusammen mit Tenzing Norgay als erster Mensch auf dem Mount Everest gestanden war. Die Nachricht raste um die ganze Welt und Hillary wurde schon bald von der britischen Königin zum Sir geadelt.” Und die Onelinezeitung “Nau” kommentiert das Ereignis mit folgenden Worten: “Am 29. Mai 1953 schrieb Edmund Hillary Geschichte. Er stand als Erster auf dem Dach der Welt. Zur Seite hatte er nur den nepalesischen Sherpa Tenzing Norgay.”

Bis heute ist umstritten, wer nun tatsächlich als Erster auf dem Gipfel des Mount Everest angekommen war. Vielleicht war es ja auch nur der Abstand einer Schrittlänge. Aber abgesehen davon: Selbst heute, 70 Jahre später, zeigen uns die Pressekommentare, wie sehr bis in die Gegenwart hinein ein Denken vorherrscht, demzufolge es eben nicht genügt, ein “Mensch” zu sein, um für aussergewöhnliche Leistungen höchste Anerkennung und Lorbeeren heimzuholen und “Geschichte zu schreiben”, sondern eben alles davon abhängt, ob man ein weisser Europäer, Amerikaner oder Neuseeländer ist oder eher “nur” ein armer nepalesischer Lastenträger. Schon der Titel des “Tagesanzeiger”-Artikels spricht Bände: “Er kehrte als Legende heim” – selbstredend, dass hier nicht von Tenzing Norgay die Rede ist, sondern von Edmund Hillary. Dann die Formulierung, Hillary sei als “erster Mensch” auf dem Mount Everest gestanden – als wäre Tenzing Norgay gar kein Mensch, sondern bestenfalls der Hund seines Meisters…

So wiederholt sich die Geschichte bis zum heutigen Tag. Noch immer lernen die Kinder in der Schule, Christoph Kolumbus hätte 1492 Amerika entdeckt. “Hatte er nicht wenigstens einen Koch dabei?”, fragte Bertolt Brecht in einem seiner berühmtesten Gedichte. Immer noch scheinen wir tief in unseren Köpfen jene Bilder zu tragen, wonach Kolumbus ganz alleine ohne fremde Hilfe in einem kleinen Ruderboot den Atlantik überquert hätte, Napoleon ganz alleine halb Europa erobert hätte und es vor allem Manager, Verwaltungsratspräsidenten und Banker seien, welchen der wirtschaftliche Erfolg eines Landes zu verdanken sei.

Dass Edmund Hillary niemals ohne die Hilfe von Tenzing Norgay den Gipfel des Mount Everest erklommen hätte, zeigt uns auf eindringliche Weise der Bericht des Sherpas Fika Bhadur Bhural, veröffentlicht im “Spiegel” am 6. Dezember 2017: “Alles mussten wir auf den Gipfel schleppen, sogar Dosenbier, Kühlschränke und Toilettensitze. Für mich begann diese Arbeit schon im Alter von 13 Jahren. In unserer Familie reichte das Geld nicht zum Essen. Wir werden je nach Gewicht bezahlt. Als 15Jähriger habe ich schon 50 Kilo getragen, mit 25 Jahren dann 80 Kilo, ich selber wiege keine 60 Kilo. Manche Kollegen schaffen sogar 110 oder 120 Kilo, aber das hält niemand lange durch. Jeder von uns hat Rückenschmerzen und Nackenschmerzen. Fast alle, die zu lange zu schwer tragen, werden krank. Ich habe schon Kollegen auf dem Weg zusammenbrechen sehen, manche sind nie wieder gesund geworden. Zum Arzt gehen Lastenträger fast nie. Niemand von ihnen hat eine Krankenversicherung. Es gibt auch keine Gewerkschaften, jeder arbeitet für sich. Wenn etwas kaputt geht, müssen wir Träger die Hälfte bezahlen. Und wenn wir nicht genug Geld haben, müssen wir die Schulden abarbeiten. Mir ist einmal ein 24er-Pack Bierflaschen heruntergefallen, da war die ganze Tour umsonst. Früher war es noch schlimmer. Da mussten wir unterwegs draussen schlafen, wenn uns die Hütten und die Teehäuser nicht reingelassen haben. Dann haben wir uns Höhlen gesucht oder Löcher in den Boden gegraben, wenn er nicht gefroren war. Heute müssen uns die Teehäuser hereinlassen, meistens schlafen wir auf dem Boden.”

Doch wir müssen nicht auf das Jahr 1953 und auf den Mount Everest schauen. Die Geschichte von den Herren und ihren Sklavinnen und Sklaven ist, und in Folge fortschreitender Globalisierung erst recht, bis zum heutigen Tag bittere Realität, nur dass die Herren und die Sklaven nicht mehr wie Hillary und Norgay zum gleichen Zeitpunkt am gleichen Ort sind, sondern über Hunderte oder Tausende Kilometer voneinander entfernt. Während reiche Menschen in Westeuropa oder Nordamerika ihren Luxus in Form glänzender Limousinen, goldenen Schmuckes, Flugreisen um die halbe Welt, elektronischer Geräte aller Art, tropischer Früchte und in allen Farben gleissender Textilien zur Schau tragen, viele von ihnen berühmt werden und nicht wenige als gefeierte Stars in die “Geschichte” eingehen, schleppen die Menschen in den Ländern des Südens zentnerschwere Säcke mit Kaffee- und Kakaobohnen und Kisten voller Ananas, Mango und Bananen in tödlicher Hitze zu den Lastwagen, mit denen sie zu den Schiffanlegestationen und später in die reichen Länder verfrachtet werden, schürfen Gold und andere Edelmetalle unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen und zu kärglichsten Löhnen aus dem Boden und müssen mit notdürftigsten Behausungen inmitten von öl- und pestizidverseuchten Gegenden Vorlieb nehmen, nur damit die Gewinne multinationaler Konzerne ungehindert weitersprudeln können…

Doch selbst mitten in den reichen Ländern des Nordens geht die Geschichte von den Herren und ihren Sklavinnen und Sklaven unaufhörlich weiter: Gutbetuchte, die sich im Luxushotel von schlechtestbezahlten Köchinnen, Kellnern und Zimmermädchen verwöhnen lassen, stolze Besitzer von Einfamilienhäusern, die die bei Wind und Wetter von Maurern, Elektrikerinnen und Zimmerleuten aufgebaut wurden, Herren und Damen der gehobenen Gesellschaft, die sich von der Coiffeuse, die trotz stundenlangem Stehen, Hektik und höchsten Ansprüchen ihrer Kundschaft nur einen Hungerlohn verdient, eine Frisur aus dem allerneuesten Modekatalog verpassen lassen…

Edmund Hillary und Tenzing Norgay. Und noch immer tragen Sklavinnen und Sklaven weltweit das Dach der Welt auf ihren schmerzenden Schultern. Und noch immer bekommen die einen goldene Statuen und Auszeichnungen und geraten die anderen über kurz oder lang wieder in Vergessenheit. Hatte Kolumbus tatsächlich nicht einmal einen Koch dabei? Die Antwort lässt bis heute auf sich warten…