Drohende Strommangellage: Allmählich merken wir, dass die Party vorbei ist

 

“Angesichts der aktuellen Entwicklung ist das Risiko eines Strommangels für die Schweiz so gross wie nie zuvor”, sagt Valérie Bourdin, Sprecherin des Verbands schweizerischer Elektrizitätsunternehmens. Im schlimmsten Falle drohen im kommenden Winter – nebst Appellen zu individuellem Energiesparen – Verbrauchseinschränkungen, Kontingentierungen und zeitweise Netzabschaltungen für einzelne Industriezweige, Stadtteile oder ganze Dörfer. Was vor einigen Jahren noch als undenkbar galt, liegt heute im Bereich des Möglichen, ja geradezu des Wahrscheinlichen. Doch eigentlich musste es ja eines Tages, mit oder ohne Ukrainekrieg, mit oder ohne Klimawandel, soweit kommen. Denn wir haben über alle Massen auf Pump gelebt, uns – oder zumindest eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung – an einen im Vergleich zu fast allen übrigen Ländern der Welt unvergleichlichen Luxus gewöhnt und natürliche Ressourcen in einem Masse verschwendet, welches das, was die Erde im gleichen Zeitraum wieder zu regenerieren vermag, um mehr als das Dreifache übertrifft. 

Eigentlich müsste die Schweiz, in Anbetracht ihres kargen Bodens und dem gänzlichen Fehlen von Rohstoffen und Bodenschätzen, eines der ärmsten Länder der Welt sein. Dass sie das reichste Land der Welt ist, hat ganz bestimmte Gründe. Wie kein anderes Land hat die Schweiz es verstanden, sich den Reichtum anderer Länder verfügbar zu machen. Obwohl sie selber keines dieser Güter besitzt, ist sie doch der weltweit wichtigste Handelsplatz für Erdöl, Diamanten, Gold, Schokolade, Zucker, Baumwolle, Getreide und viele weitere Rohstoffe und Bodenschätze. Auch erzielt die Schweiz erhebliche Handelsbilanzüberschüsse durch den Import kostengünstiger Rohstoffe und Nahrungsmittel und den Export hochwertiger, teurer Fertigprodukte. Auch kommt der Schweiz eine überragende Rolle als international wichtiger Finanzplatz zu, der immerhin einen Zehntel des gesamten Bruttosozialprodukts ausmacht. Dies alles, sowohl die hochproduktive Wirtschaft wie auch der damit verbundene Lebensstandard, verbraucht stetig wachsende Unmengen an Energie. Und auch diese, wie könnte es anders sein, wird zum allergrössten Teil aus dem Ausland importiert. Ob Erdöl, Gas oder Kohle, ob Uran für die Brennstäbe oder Lithium für die Batterien der Elektromobile – alles muss, oft über lange Wege, von anderen Ländern und Kontinenten herbeigeschafft werden. Selbst die Solarmodule, welche “einheimischen” Strom produzieren, stammen zum allergrössten Teil aus dem Ausland, vor allem aus China. Und auch die Wasserkraftwerke, auf die wir Schweizerinnen und Schweizer so stolz sind, wurden grösstenteils von Arbeitern aus Italien, Spanien oder Portugal gebaut.

Doch genau betrachtet, zapft die Schweiz, um ihren Energiebedarf zu decken, nicht nur zahllose ausländische Quellen an. Sie zapft, im Bunde mit allen anderen hochindustrialisierten Ländern, auch die Zukunft der Menschheit an. Denn, fast hätten wir es vergessen: Sowohl das Erdöl wie auch die Kohle, sowohl das Erdgas wie auch das Uran für die Atomkraftwerke und selbst das Lithium für die Batterien der Elektrofahrzeuge und die Solarzellen, alles ist endlich und wird eines Tages aufgebraucht sein. In hundert oder zweihundert Jahren wird verprasst sein, was die Erde in Millionen von Jahren hervorgebracht hat. Wir leben gleichsam auf Pump und schieben die Verantwortung für zukünftige Generationen wie einen immer höheren Berg vor uns her – wie den radioaktiven Müll, der noch in zehntausend Jahren seine tödliche Strahlung verbreiten wird.

“Die Erde hat genug für jedermanns Bedürfnisse”, sagte Mahatma Gandhi, “aber nicht für jedermanns Gier.” Der Klimawandel wie auch die sich immer deutlicher abzeichnende “Energiekrise” sind vielleicht der letzte Wink, dass ein grundsätzliches Umdenken stattfinden muss. Bisher lautete die Frage stets: Wie viel Energie brauchen wir? Und dann hat man alles noch so Verrückte getan, um diese steigende Menge an Energie aus den vorhandenen Quellen herauszupressen. Zukünftig müsste die Frage lauten: Wie viel Energie steht uns zur Verfügung, ohne die natürlichen Ressourcen, die Erde, das Klima und die Zukunft in verantwortungsloser Weise zu gefährden? Energie also als kostbares, endliches, sorgsam und sparsam zu nutzendes Gut, das nicht einfach in beliebiger Menge zur Verfügung steht. Eine unbequeme Wahrheit, die bisher nur von vereinzelten Politikerinnen und Politikern ausgesprochen worden ist, an der wir aber, früher oder später, nicht vorbeikommen werden. Denn, wie der deutsche Astrophysiker Harald Lesch unlängst sagte: “Wir haben auf viel zu grossem Fuss gelebt und merken allmählich, dass die Party vorbei ist.”